Beizen sterben vielleicht – Gasthäuser nicht

Beizen sterben vielleicht – Gasthäuser nicht

Geneigte Tageszeitungen titulieren im Chor und mit grossen Lettern das Beizensterben im Gantrischgebiet. Doch das ist ein Richterspruch, der ein ganzes Gebiet zu unrecht verurteilt, wie ein Besuch im legendären Hirschen Sangernboden verdeutlicht.

«Freut mich», meint Corina Cardoso und streckt die Hand entgegen, während ihr Mann Nuno mit einer schneeweissen Küchenschürze bewaffnet, freundlich nickt. Ein junges Wirte-Ehepaar in jenem altehrwürdigen Gasthaus, das seit 200 Jahren in Sangernboden Dreh- und Angelpunkt ist. Ein Vorgeschmack, denn da die Küche renoviert wird und das Gebäude ein paar Tage zu ist, öffnet der Hirschen am 3. März unter der neuen Führung.

37 Jahre

Wobei diese gar nicht so neu ist. Längst kennen die Tagesgäste am grossen runden Tisch die Frischvermählten. Corina Cardoso ist die Tochter der Wirtin Monika Ramseier; Nuno ist ein begabter Koch, der nach sieben Jahren am Thunersee nun Schulter an Schulter neben dem grossen «Chef de Cuisine» Daniel Kilcher steht, bevor er selbst die Küche orchestriert. Der Patron des Hauses ist kein Mann, der grosse Reden schwingt, lieber schwenkt er die Pfanne über dem Herd. «Das isch gäbig gsi», meint er zu Nuno gerichtet und zu den vergangenen Monaten, in denen sie gemeinsam gekocht haben. Nach 37 Jahren übergibt er den Kochlöffel an seinen Schwiegersohn.

Von Chef zu Chef

Und das ist ein mächtiger Löffel. Daniel Kilcher ist Mitglied des «Cercle des Chef de cuisine Berne», der Hirschen ein Gilde-Restaurant und seit 200 Jahren bekannt für seine gute Küche. Wobei es sein Vermächtnis ist, dass aus dem guten Gasthaus ein exzellentes geworden ist. Ohne die Bodenhaftung, das Wärschafte und Warmherzige einzubüssen, versteht sich. «Die Fusstapfen sind gewaltig gross», meint Nuno mit Ehrfurcht, doch sein zeitgleiches Lächeln verrät, dieser Koch hat die Absolution des grossen Patrons und einen Plan im Sack. «Ich habe die Schweizer Küche erlernt, die traditionellen Gerichte des Hirschen bleiben bestehen, aber ich werde der Karte noch eine mediterane Note verleihen», verrät Cardoso.

Drei Schwalben

Das Gasthaus Hirschen hat seine Nachfolge gesichert. Schön und gut. Doch macht bekanntlich eine Schwalbe noch keinen Frühling. Das Berghaus Gurnigel ist geschlossen, das Gurnigelbad eine Asylunterkunft, das Restaurant in Milken geschlossen, die Liste liesse sich problemlos verlängern. Wenn aber mit dem Hirschen Sangernboden, dem Sternen Guggisberg und dem Löwen Riffenmatt gleich alle drei grossen Gasthäuser der 1500-Seelen-Gemeinde Guggisberg ihre Zukunft gesichert haben, dann wirkt das propagierte Beizensterben schon fast wie eine Zeitungsente. Der Löwen ist mit der Schafscheid verbandelt, im Sternen nahm schon Friedrich Dürrenmatt seinen Wein ein und der Hirschen Sangernboden ist ein lebendiges Stücklein Regionalgeschichte – aber dazu später mehr. «Man muss nur ein wenig abseits der Passstrasse schauen, dann sieht es gar nicht so schlecht aus», resümiert Monika Ramseier. 

Gasthaus statt Beiz

In Guggisberg ist man konsterniert ab dem Todesurteil, das die Beizenberichterstattung zeichnet. Pfeutis im Sternen, Aebischers im Löwen und Kilchers mit Cardoso haben ihre Häuser im Griff. Der Unterschied zwischen dem proklamierten Beizensterben und den drei Beispielen liegt in der Bezeichnung: Es handelt sich bei Sternen, Löwen und Hirschen um Gasthäuser mit einem herausragenden Ruf, es sind – mit Verlaub – sicher keine Beizen. Mögen Beizen eingehen, Gasthäuser tun es offenbar nicht. «Wer zu uns kommt, hat in der Regel noch einen weiten Heimweg. Man muss sich reinknien, um an einem entlegenen Ort bestehen zu können. Menschen, die dazu bereit sind, findet man nicht an jeder Strassenecke», meint Kilcher. 

Das Erbe

Ausser in Sangernboden, könnte man spasseshalber ergänzen. Denn seit 200 Jahren ist der Hirschen lokal jeweils in neue Hände übergegangen, zuletzt von Onkel Otto Kilcher an Daniel. Und um diese Zeit ranken sich Legenden; ein Stücklein Regionalgeschichte, das ohne Hirschen in Vergessenheit geraten könnte. Ein Beispiel gefällig? Im altehrwürdigen Gasthaus spricht man noch immer vom Salzregal, wenngleich dem besagtem Gebäudeteil inzwischen andere Aufgaben zukommen. Doch der Name erinnert an jene Zeit, als der Salzpreis kantonal grosse Unterschiede aufwies und Salz ein rares Gut war. Bern verfügte im 19. Jahrhundert über bessere Preise, was die Freiburger veranlasste, mit Ochsen- oder Pferdgespann an die Kantonsgrenze zu kommen. Der Hischen war eines der wichtigen Salzregal und Sangernboden entwickelte sich zum Zentrum einer geschäftigen Zeit, in der das Dorf 1000 Einwohnerinnen und Einwohner zählte. In einer Zeit in der Kantonsgrenzen schon fast Kulturgrenzen, Sprachgrenzen und Glaubensgrenzen sein konnten, spielte der Graben zwischen Freiburg und Bern im beschaulichen Sangerboden keine Rolle. Wäre es nicht so klein, man dürfte glatt vom Freistaat Sangernboden reden. Und heute? Die Einwohnerzahl ist auf unter 100 Personen geschrumpft, dennoch erinnern zwei offizielle Zahlen an die Sonderstellung des Orts: 17 und 26. Während Guggisberg die Postleitzahl 3158 kennt, erreicht man Sangernboden mit der Anschrift 1738 und will man Haushalte in Riffenmatt oder Guggisberg Dorf erreichen, wählt man die Vorwahl 031, in Sangernboden allerdings 026. Und das innerhalb derselben politischen Gemeinde. Der Senslerdialekt ist am grossen runden Tisch zwar in der Minderheit, gehört aber wie selbstverständlich an denselben Tisch die der Berner.

Die Mahnmale

Man könnte Bücher füllen mit solchen Guggisberger-Geschichten, würde man nun noch den Blick in das Gästebuch des Sternen dazunehmen oder den Löwen mitten in der so wichtigen Schafscheid situieren. Doch egal, wie viele Beispiele man anzufügen wünscht und damit die Bedeutung verstärken möchte: Gasthäuser sind ein Stück Geschichte, sie erinnern an bewegte Zeiten, von der bitteren Armut der Gegend zum Aufschwung, den vielen Tanzabenden, vor denen – Achtung es folgt nun doch noch ein Beispiel – im Hirschen der Saal mit Tannenstangen unterlegt werden musste, an Hochzeiten, wichtige Entscheidungen der Bauern, ihrer Milch und dem Käse; selbst diese Aufzählung liesse sich noch verlängern. Vielleicht darf man sogar vermuten, dass die Geschichtsschreibung an einigen Stellen umgeschrieben werden müsste, würde man den Fundstücken und dem Wissen dieser Häuser etwas Beachtung schenken.

Der Schiffsbrüchige

Inzwischen hat Daniel Kilcher die alten handgeschriebenen Kaufverträge hervorgeholt und auf dem Tisch ausgebreitet. Darunter liegt ein Zeitungsartikel, der ins Auge sticht. «Schiff Bolivar gesunken» titelt diese im Jahr 1939 und berichtete von der Überfahrt eines holländischen Dampfers über den Atlantik. «Wir wussten, dass mein Onkel Otto Kilcher auf diesem Schiff war und dachten, er sei ertrunken», erzählt der Wirt. Man kann sich nur ansatzweise vorstellen, welche Verwunderung im Dorf ausbrach, als dieser einige Wochen später vor der Türe des Hirschen stand. Der Gerettete übernahm fortan die Geschicke des Gasthauses. «Schon als Kind war ich viele Stunden bei ihm und half in der Küche mit», erinnert sich Daniel Kilcher. Der geschickte Schüler besuchte zwar das Gymnasium, doch das half alles nichts – er wollte seither im Hirschen Gäste bewirten. «Ich lernte so einiges von meinem Onkel, einem Mann, der mit viel Geschick alles in Handarbeit von Grund auf zubereitete», ergänzt Kilcher.

Vielleicht wäre es gar keine so schlechte Idee, wenn die Ausflügler im Naturpark Gantrisch hin und wieder mal den Blinker setzen und ihre Erfrischung oder Stärkung etwas abseits der Passstrasse suchen. Verwöhnt werden sie mit dem geheimen Rezept der Gasthäuser, über das Daniel Kilcher verrät: «An einem Ort, wo alle noch einen weiten Heimweg haben, braucht es etwas Wunderbares auf dem Teller, ein Stücklein Zeit und jede Menge Gastfreundschaft.» In Zeiten von Fachkräftemangel, speziell in der Gastronomie, mag es vielleicht schwer werden, Menschen zu finden, die sich mit Leib und Seele dieser Aufgabe verschreiben. Aber es gibt sie, diese geborenen Gastgeberinnen. «Vielen Dank für den Besuch und gute Heimfahrt», klingen die freundlichen Worte und das warme Lächeln der Cardosos noch lange nach, bevor die kurvenreiche Strasse das Auto in der winterlichen Dunkelheit verschluckt. Hirschen, Sternen, Löwen – Kilcher, Pfeuti, Aebischer. Das ist gelebte Geschichte, dass ist der dreifache Beweis, das Beizen vielleicht sterben mögen, Gasthäuser offenbar nicht.

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