Blumentöpfe, Holztische und Tangoschritte

Blumentöpfe, Holztische und Tangoschritte

Direkt am Bahnhof befindet sich ein Ort, an dem gebrauchte Dinge angeboten werden; für mehr Nachhaltigkeit und gegen unbedachten Konsum. Dort können die Leute stöbern, einkaufen, Kaffee trinken oder ab und zu auch tanzen. Viermal im Jahr verwandelt sich die Brockenstube in ein Tangolokal.

Stefan Utiger, Inhaber des «Brockenreichs», sitzt in seiner Kaffee-Ecke. Daneben schläft der «Brockihund», während er von seinen Beweggründen für die Eröffnung des Ladens spricht. Die Wände sind gelb gestrichen, der Boden besteht aus Kacheln, nebenan steht eine Plastikpalme, an der Decke hängt Wäsche. Die Atmosphäre ist gemütlich, italienisches Flair hängt in der Luft. «Diese Sitzecke habe ich gerade neu gemacht, mir gefällt dieser Stil», betont der italienische Doppelbürger.

Genug vom Büroalltag
Die Brockenstube ist gross, besteht aus zwei Hallen und wird von den Mitarbeitenden in verschiedene Sektoren eingeteilt. Bevor Utiger im Oktober 2013 seine langersehnte eigene «Brocki» eröffnete, war hier eine Schreinerei. «Ich arbeitete vorher 14 Jahre in einem Büro und wusste, dass ich das nicht mehr will», blickt er zurück und fügt an: «Ich mochte ‹Brockis› schon immer, in meiner Ferienzeit habe ich dann in einer gearbeitet, um einen ersten Eindruck zu gewinnen und Erfahrungen zu sammeln. Das hat mich ermutigt, den Schritt zu wagen.»

Zusammen mit Cornelia Di Franco ist Utiger ein halbgeschützter Arbeitgeber. Er bietet seinen sechs Mitarbeitenden – Personen, die Sozialhilfe empfangen oder in Rente sind – durch die Arbeit eine Tagesstruktur. «Wir haben eine Win-win-Situation. Den Mitarbeitenden wird eine Struktur in ihrem Alltag ermöglicht und wir müssen keine Löhne zahlen, sind also finanziell entlastet», meint der 50-Jährige.

Sinnvolle Lösung
Zwei Frauen diskutieren auf Spanisch über ein Kleidungsstück, eine junge Frau, vielleicht eine Studentin, stöbert sich durch die Artikel, ein Mann im klassischen Anzug betritt das «Brockenreich». So verschieden das Angebot, so verschieden ist hier auch die Kundschaft. Oder gerade deshalb. «Es gibt für alle etwas, wir haben kein bestimmtes Zielpublikum», erklärt Utiger und fügt an: «Hier befinden sich Dinge aus verschiedensten Zeiten und Stilen; Vintage, Antike, Ikea.» Doch Besuch bekommt die «Brocki» nicht nur von Kauffreudigen. Auch BLS-Angestellte und Reisende würden manchmal auf einen Kaffee oder Tee vorbeikommen, erzählt Utiger. Die Motivation hinter seiner Tätigkeit sieht Utiger unter anderem darin, dass solche Läden einen Beitrag zur Bekämpfung des übermässigen Konsums leisten, der heute nahezu als normal gilt. «Ich sehe darin einen Widerstand gegen den Prozess des Konsums – also neu kaufen, brauchen, entsorgen.»

Eine bunte Mischung
Viermal im Jahr – jeweils am Abend – erkennt man eine der Halle nicht wieder. Dann stolzieren hier Tangotänzerinnen und -tänzer aus Städten der ganzen Schweiz über den Parkettboden. «Da ich selbst leidenschaftlicher Tangotänzer bin, kam mir die Idee, hier eigene Events zu veranstalten. Ich kaufte mir eine Second–Hand–Diskokugel, womit es für mich kein Zurück mehr gab», lacht Utiger. Nun finden seit dem Jahr 2018, mit Unterbruch durch die Pandemie, regelmässig Milongas (Tangoveranstaltungen) statt, wozu jeweils die ganze «Brocki»-Ware weggeräumt wird. Auch hier sind Utigers italienische Wurzeln spürbar: Die Events werden «La Lambetta» genannt, was die italienische Bezeichnung von Roller ist. Ausserdem gebe es italienisches Essen und in den kurzen Pausen nach drei bis vier Liedern, in denen im Tango ein Partnerwechsel erfolgt, ertöne italienische Musik, erklärt der 50-Jährige, der seit 21 Jahren tanzt.

Ende in Sicht
Mit ernster Miene meint Utiger zum Schluss, dass das Gebäude bedroht ist. «Das Ganze hier wird einmal ein Ende finden, da die Gemeinde beschlossen hat, das Haus abzureissen. Brockenstuben haben überall dieselben Probleme: Sie benötigen viel Fläche, können aber nicht viel bezahlen», erklärt er die schwierige Situation. Aus diesem Grund könne er sich vorstellen, dass solche Läden aufgrund von fehlendem bezahlbarem Raum eines Tages ganz verschwinden werden.

Noch ist das «Brockenreich» aber ein Ort, wo Stefan Utiger seiner Passion für die «Brocki» und den argentinischen Tanz nachgehen kann. «Die Brockenstube ist nicht nur mein Alltag, sondern auch ‹mein Ding› und Herzblut; und das verbunden mit Tango ist absolut grandios», strahlt er und die Sorgen über das vorhersehbare Ende scheinen kurz vergessen.
Nadia Berger

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