Zwischen 2013 bis heute forderten im Kanton Bern 2200 Betroffene beim Staatsarchiv eine Zusammenstellung ihrer Akten. Zehntausende Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Verdingungen sind bereits verstorben. Genaue Zahlen sind schwierig zu rekonstruieren. Doch dass der Kanton Bern stark tangiert war, bestätigt auch ein Blick auf die Anträge an einen Solidaritätsbeitrag, den Betroffene im Rahmen des Bundesgesetzes über die «Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahen und Fremdplatzierungen vor 1981» erhalten haben. Schweizweit bekamen 10’000 Betroffene 25’000 Franken, ungefähr ein Fünftel dieser Personen stammen aus dem Kanton Bern, etliche aus dem Verteilgebiet dieser Zeitung.
Aufarbeiten
«Es ist erschreckend, wie wenig wir wissen», sagt Tanja Bauer. Das Thema sei viel zu lange tabuisiert worden und die geschichtliche Aufarbeitung stehe erst am Anfang. Ein Blick in das Archiv der ortsgeschichtlichen Sammlung Köniz zeige, dass es alleine auf dem Könizer Gemeindegebiet mindestens acht Heime und Anstalten für Kinder und Jugendliche gab. Köniz sei stark betroffen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen gewesen. «Einzelne Institutionen oder Betroffene haben ihre Geschichte selbst aufgearbeitet», sagt die Gemeindepräsidentin. Eine ganzheitliche Sicht auf das Geschehene in der Gemeinde gebe es aber nicht. «Bei den Fällen, die ich kenne, ging es um Armut, fehlende Sozial- und Familienpolitik und rigide gesellschaftliche Vorstellungen. Dass es in der Schweiz bis 1981 möglich und akzeptiert war, dass Kinder und Jugendliche mit staatlicher Billigung unter unvorstellbaren Bedingungen aufwachsen mussten, bleibt für mich aber schlussendlich unverständlich», erklärt Bauer.
«Im Gantrischgebiet war das Verdingwesen auf Bauernhöfen üblich», sagt Kathrin Sauter, Gemeinderätin in Schwarzenburg. Genaue Zahlen liegen auch hier nicht vor. Allerdings hat man Angaben über diejenigen Personen, die sich beim Berner Staatsarchiv gemeldet und um Zusammenstellung ihrer Unterlagen gebeten haben. In Schwarzenburg waren es beispielsweise 35, in Riggisberg 14, in Rüeggisberg 25 und in Rüschegg 16.
Gedenken
Der Kanton will nun ein «Zeichen der Erinnerung schaffen», damit die dunkle Geschichte sichtbar und ein Stück weit verarbeitet wird. Im Rahmen des Projekts gedenkt der Kanton Bern am 25. Mai der vielen Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen durch staatliche Behörden. In Zusammenarbeit mit Betroffenen, Gemeinden, Schulbehörden und kirchlichen Organisationen hat er verschiedene Teilprojekte erarbeitet. Mittels Erinnerungstafeln, Plakatausstellungen, Unterrichtsmaterialien und einer Webseite soll die Berner Bevölkerung sensibilisiert, informiert und dazu bewegt werden, sich mit diesem Stück Schweizer Geschichte auseinanderzusetzen. Gleichzeitig wird der Blick nach vorne gerichtet, damit ein solches Unrecht sich nie wieder ereignen könne, schrieb die Staatskanzlei in einer Medienmittelung.
Teilnehmen
Der kantonale Gedenkanlass findet am 25. Mai im Schloss Köniz statt. Zudem wird es in der Gemeinde eine Gedenktafel und zwei Plakatausstellungen geben. Am 1. Juni organisiert sie eine Gesprächsrunde mit Guido Fluri, dem Initiator der Wiedergutmachungsinitiative, der Berner Staatsarchivarin Barbara Studer und der Gemeindepräsidentin Tanja Bauer. «Wir wollen einen Reflexionsraum für die Bevölkerung bieten», sagt sie. Sie ist sich bewusst, dass es nach wie vor Betroffene gibt, die in Köniz leben. Ein respektvoller Umgang mit ihnen sei ihr ein besonderes Anliegen. Die Gemeinden Schwarzenburg, Riggisberg, Rüschegg, Rüeggisberg, Oberbalm, Thurnen und Guggisberg schlossen sich für einen Gedenkanlass zusammen. Am 25. Mai findet in Riggisberg eine «gemeinsame Erinnerung» statt. Neben einem Kurzfilm liest Eva Cornelia Arn aus dem Buch ihrer Grossmutter vor. Rosalia Grützner-Wenger wurde als Kind in Schwarzenburg verdingt und engagierte sich später in der Berner Frauenbewegung. An diesem Abend wird zudem eine Erinnerungstafel eingeweiht. «Wir werden in jeder Gemeinde Plakate an öffentlichen Orten wie Kirchen oder Bibliotheken aufhängen, damit diese möglichst viele Menschen erreichen», erklärt Sauter. Es sei wichtig, aus der Geschichte zu lernen. «Eine Gesellschaft braucht Strukturen, sie braucht Hilfe und sie braucht einen Sozialstaat. Das ist eine wichtige Botschaft.»