Ich bin nur wenige Wochen alt. Vollgefressen mit Schnecken, denen ich als Larve meine spitzhackigen Zähne in den Leib gebohrt habe, um sie zu lähmen und zu vegiften, bin ich nun gewachsen, gestärkt und geschlechtsreif. Die Weibchen erleichtern mir die Suche, weil sie Ihren Unterleib hell erleuchten und auf Grashalmen auf mich warten. Das tun sie jedoch nur von der Dämmerung bis zirka elf Uhr abends. Auch ich leuchte. Zwar nicht permanent; aber immer mal wieder.
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Der Biologe Jonas Leuenberger hat mein Versteck gefunden. Er glaubt, dass ich leuchte, um Präsenz zu markieren oder mich zu schützen. Aber so wirklich wissen tut es noch nicht mal der Glühwürmchen-Experte Stefan Ineichen. Ja, ich habe noch viele Geheimnisse. Manches möchte ich aber auch verraten; jetzt wo «Pro Natura» mich und meine Freunde zum Tier des Jahres ernannt hat. Das war auch höchste Zeit.
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Denn meine Art ist selten geworden. Und da ich ein kleines Glühwürmchen bin, sogar sehr selten. Während es von den grossen Glühwürmchen noch ein paar Stellen mehr gibt, an denen man leben kann, gibt es unsereins nur noch an 3 bis 4 Stellen in der ganzen Schweiz.
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Die Umweltgruppe hat mich und meine Freunde oberhalb von Kehrsatz gefunden. Einem der wenigen Orte, wo wir nicht von der Lichverschmutzung gestört werden und wo wir noch genügend Biodiversität und ein natürliches, leicht feuchtes Gebiet vorfinden.
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Als Erster bin ich aus dem Wald hinausgeflogen und habe hell geleuchtet. Mein Wunsch war, dass mich die Menschen, die sich der Exkursion der Umweltgruppe Kehrsatz angeschlossen haben, bestaunen können; so wenig Menschen haben unsereins überhaupt schon mal gesehen und nun sind einige gekommen, um die letzten von uns just in der Zeit zu beobachten, wo wir überhaupt «glühen».
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Hell leuchten wollte ich für diese Menschen, die vielleicht an mich und meine Freunde denken, wenn sie wieder heimkehren und mithelfen, dafür zu sorgen, das die letzten Ecken, in denen ich noch leben kann, nicht auch noch beleuchtet, verbaut oder zu intensiv genutzt werden. Sie durften mich sogar auf der Hand halten und aus nächster Nähe anschauen. Etwa Nathalie Wirz, die Maturantin aus Köniz, die aus Gasel angereiste Familie Schumacher, die noch nie jemanden wie mich gesehen hat, oder Ruth Loosli, die erst mit 78 Jahren einen meiner Freunde vor der eigenen Haustür gefunden hat.
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Nur Katharina Bieri, die Präsidentin der Umweltgruppe Kehrsatz, hat für meine grossen Glühwürmchen-Freunde ein Habitat vor der Haustüre. Monique Streit hat vor der Suche nach mir und meinen Freunden den Entdeckern erklärt, dass wir eigentlich Leuchtkäfer sind und nur als Würmchen bezeichnet werden, weil unser Äusseres eher an Würmchen erinnert, insbesondere die Weibchen, die nicht fliegen können.
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In wenigen Tagen bin ich vom Liebesspiel dermassen erschöpft, dass ich sterben werde. Und ich möchte nicht, dass sich jeder an Xaver, das kleine Glühwürmchen vom Gurten erinnert, sondern, dass meine Nachfahren auch noch einen intakten Lebensraum vorfinden. Denn sonst heisst es bald auch in den letzten Ecken der Schweiz: Lichterlöschen für die Glühwürmchen.