Etwas zwickt mich in die Schulter. Benommen öffne ich meine Augen. Verwirrt blinzle ich in das lächelnde Gesicht einer adrett gekleideten Stewardess. Ob ich Frühstück möchte? Ich nicke und versuche, mich zu sammeln. Ich sitze im Flugzeug, es ist früher Morgen. Während meine Sitznachbarin genüsslich ihre Nudeln geniesst, kriege ich nichts runter. Ich bin nervös. Vor mir liegen fast vier Monate Ungewissheit. Keine Fixpunkte, keine geplante Route, keine Begleitung. Eine weisse Fläche auf meiner Weltkarte. Sicher ist nur, dass mich meine Reise von Singapur nach Hanoi führen wird, durch Malaysia, Thailand, Laos, Kambodscha und Vietnam.
Nach zwölf Stunden Flug ist es so weit: Mein Fuss berührt asiatischen Boden. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein grosser Schritt für mich. Die U-Bahn ist überfüllt. Eingezwängt zwischen Pendlern fahre ich ins Stadtzentrum. Ab und zu streift mich ein neugieriger Blick aus mandelförmigen Augen. Mit meinen europäischen Gesichtszügen und den hellen Haaren falle ich auf wie ein bunter Hund. Singapur ist beeindruckend! Fassaden aus Glas und Stahl, gewaltige Bürotürme und Hotels prägen die Skyline und zeigen das moderne Gesicht der Stadt. Zum ersten Mal sehe ich Wolkenkratzer und fühle mich wie ein Landei. Im kompletten Gegensatz dazu stehen die bunten Häuserzeilen in «Little India», dem indischen Stadtteil. Auch hier falle ich auf, wenige Touristen sind unterwegs. Etwas unsicher und barfuss betrete ich den hinduistischen Tempel, der die Szenerie überblickt. Grellbunte Götterfiguren empfangen mich, Männer mit Turban werfen sich dem Hauptaltar zu Füssen. Abends zieht es mich zur «Marina Bay», wo das berühmte Hotel Marina Bay Sands und die Skyline festlich beleuchtet sind. Vorbereitungen für den Nationalfeiertag. Fünfzig Jahre Unabhängigkeit, die Vorfreude auf das Fest ist spürbar, die Landesfarben rot und weiss sind allgegenwärtig. Am Quai setze ich mich kurz hin. Ein junger Mann setzt sich zu mir und spricht mich an. Schnell kommen wir ins Gespräch; er ist Wirtschaftsstudent und erzählt von seinem Austauschjahr in Europa. Er steht für ein modernes und fortschrittliches Asien und träumt von beruflichen Höhenflügen. Zum ersten Mal seit ich vor zwei Tagen in Singapur gelandet bin, bin ich entspannt und fühle mich angekommen. «Welcome to Asia!», sagt mir der junge Mann zum Abschied und schenkt mir ein Lächeln.
Es ist dunkel, ich sitze vor meiner Herberge in Bangkok und rauche eine Zigarette. Kakerlaken huschen über den Steinboden. Überall in der Gasse brennen Kerzen, Menschen schlurfen in Nachthemden umher. Stromausfall ist nichts Ungewöhnliches, dennoch ist die Stimmung unruhig. Vor rund zwei Stunden explodierte am «Erawan Schrein» wenige Kilometer entfernt eine Bombe. Die Nachrichten zeigen Bilder von verzweifelten Rettungskräften und panischen Menschen. Für den Wirt von Gegenüber ist der Fall klar: «Das waren Leute von Thaksin.» Ein ehemaliger Regierungschef, der abgesetzt wurde. Einer von vielen, in den letzten Jahren hat es immer wieder Unruhen und Regierungswechsel gegeben. Der Wirt lächelt: «Thailand is not good now.» Die Menschen in Bangkok nehmen den Vorfall erstaunlich gelassen. Ein zweiter Anschlag geht glimpflich aus, eine weitere Bombe wird rechtzeitig entschärft. Die Polizeipräsenz ist gross. Ich bleibe noch einige Tage in Bangkok und erkunde die Stadt. Ein mulmiges Gefühl bleibt.
Der Zug bringt mich nach Norden. Besuche in buddhistischen Tempeln und historischen Ruinen, ein Kochkurs und der Besuch bei einer Handleserin füllen die Tage. Alleine unterwegs sein ist nie ein Problem, ich fühle mich fremd, aber sicher.
In Mae Sariang treffe ich Mitarbeiter der Vereinten Nationen und Volontäre diverser NGOs. Flüchtlinge aus den Grenzgebieten zu Burma und die Armut der Landbevölkerung sind grosse Themen. Eine junge Deutsche führt mich durch die Oberstufenschule, an der sie unterrichtet. Die Schüler grüssen ehrerbietig, die Hände vor der Stirn aneinandergelegt. Meine Wirtin leiht mir einen Roller. Es dauert eine Weile, bis ich den Dreh raus habe. Durch leuchtend grüne Reisfelder fahre ich den Bergen entgegen, die Strasse wird immer abenteuerlicher, bis ich schliesslich nur noch eine schmale, staubige Piste unter den Rädern habe. Die Strasse ist übersät mit Schlaglöchern, ab und zu passiere ich ärmliche Siedlungen. Wasserbüffel sind kein seltenes Hindernis. Der Motor ächzt, doch endlich bin ich am Salawin River, dem Grenzfluss zwischen Thailand und Burma. Der Ausblick auf das Nachbarland lässt mein Herz höher schlagen. In wackligem Thai frage ich in einem winzigen Laden nach einer Flasche Wasser. Es ist ein Moment des Glücks: ein strahlender Tag, eine gemeisterte Herausforderung und ein erfolgreicher erster Sprechversuch.
Ein Minivan bringt mich zur Grenze. Ich bin weit und breit die einzige Falang, Hellhäutige. Den Ausreisestempel in den Pass, dann geht es auf Schusters Rappen rund einen Kilometer der laotischen Grenze entgegen. Auf halber Strecke hält ein Pickup neben mir. «Willst du zum Checkpoint?», fragt der Fahrer. Ich schwinge mich mit meinem Rucksack auf die Ladefläche. Am Grenzposten lerne ich meine Begleiter kennen. Good und Pi-
yapun, ein Pärchen aus Bangkok, springen sofort als Dolmetscher ein, das Visa ist im Nu gelöst. Die zwei nehmen mich mit nach Muang Ngeun. Hinter der Busstation miete ich ein Zimmer, dann gönne ich mir im nahen Restaurant eine Nudelsuppe. Am Nebentisch trinken junge Laoten Bier, wir kommen ins Gespräch. Es sind Lehrer aus der Region. Sofort bin ich zum Essen eingeladen, per Roller geht es ein paar Häuser weiter. Englisch kann niemand, ein paar Brocken bloss. Ich lerne einige Wörter in der Landessprache. Zum Essen setzen wir uns auf den Boden, auf einer Bastmatte in der Mitte stehen mehrere Schüsseln mit Bambus, Suppe mit Froschschenkeln, Reis und Wasserkresse, ordentlich scharf. Dazu gibts Bier mit Eis. Meine Stäbchenkünste sorgen für einige Lacher, mitlachen fällt nicht schwer. Der Abend endet, wo ein Abend hier enden muss: in einer Karaokebar.
In Laos stosse ich auf mehr Schwierigkeiten als bisher. Englisch ist nicht verbreitet. Ohne mein Sprachbüchlein wäre ich verloren. Ein Lächeln hilft zwar oft, aber die Laoten sind Touristen gegenüber etwas misstrauisch. Der Zauber des Landes liegt in wilden und beeindruckenden Landschaften, die mit intensiven Farben gemalt zu sein scheinen. Nach einem Abstecher nach Nordlaos folge ich dem Mekong nach Süden.
In Kambodscha schlittere ich in eine waschechte Krise. Was tue ich mir hier an? Ich fühle mich einsam und unzufrieden. Das übliche Hausmittel – ausreichend Schlaf und eine gute Mahlzeit – hilft nicht weiter. Was also tun? Bewegen. Nach tagelangen Fahrten mit Bus, Roller, Songthaew und Boot bin ich das Sitzen leid, die angestaute Energie ist zermürbend. Kurzentschlossen räume ich meinen Rucksack aus, nur das Nötigste bleibt. Mit dem ersten Hahnenschrei bin ich auf der Landstrasse. Mit jedem Schritt hebt sich meine Laune. Die Menschen, die mir begegnen winken und grüssen von Weitem. Auch Li grüsst lächelnd, spontan lädt sie mich auf ein Glas Wasser ein. Ein paar Mädchen im Teeniealter trauen sich heran. Unter grossem Hallo schiessen sie mit meiner Kamera ein Foto von Li und mir, eine Digitalkamera haben sie noch nie gesehen. «I love you», ruft Li mir nach und schickt eine Kusshand hinterher. Übernachten darf ich in einem buddhistischen Kloster. Die Novizen sind aufgeweckte Jungen, sie versuchen mit eifrigen Gesten und wilder Mimik mit mir zu reden. Wir lachen viel. Auf dem Handy von Utnam darf ich Tom und Jerry gucken, die Knaben schenken mir eine Dose Orangensaft. Nach einer unbequemen Nacht auf hartem Boden bin ich früh wieder unterwegs. Die Krise ist verflogen.
Die Tempel von Angkor und die Hauptstadt Kambodschas liegen hinter mir. Zum ersten Mal reise ich in einer Gruppe. Audrey und Eva überzeugen mich, eine geführte Tour zu buchen. Ich bin skeptisch. Wir fahren ins Grenzgebiet zwischen Nord- und Südvietnam, Schauplatz intensiver Kriegshandlungen in den 60er- und 70er-Jahren. Unser Guide informiert uns über Offensiven, Guerillataktik und Stützpunkte. Über die Nachwirkungen des Krieges schweigt er sich mehrheitlich aus, Worte sind auch nicht nötig. Die fehlenden Wälder und die Verkrüppelungen vieler Menschen sprechen Bände. «Das entspricht nicht dem Buddhismus und unserer Mentalität», antwortet mir der Guide auf die Frage nach Ressentiments. Weniger spirituell ist das Geschäft mit dem Kriegstourismus. Neben ehemaligen Stollen der Widerstandskämpfer können auch gleich die eigenen Fähigkeiten an der «M1 Rifle» getestet werden, und Propagandaplakate sind beliebte Souvenirs. Wir besuchen in kürzester Zeit Friedhöfe, Denkmäler, Museen und Rückzugstunnel. «War es so schlimm?», fragen meine Begleiterinnen am Ende der Tour. Die Frage hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack.
Ich sitze im Flugzeug, es geht nach Hause. Ich schliesse die Augen und lehne mich zurück. Der weisse Fleck ist von meiner Weltkarte verschwunden, ausgefüllt vom würzigen Duft der Suppenküchen, von intensiven Farben des Sonnenuntergangs über dem Mekong, von ruhigen Gesichtern alter Buddhastatuen und dem Kribbeln im Bauch bei der Ankunft in einer neuen Stadt. Alleine durch Asien – ein bleibendes Erlebnis.


