Der selbstbestimmte Mensch stimmt mit dem überein, was ihn selbst ausmacht. Der fremdbestimmte Mensch stimmt mit etwas überein, das seinem Wesen widerspricht. Ein selbstbestimmtes Leben hat sich in unserer Gesellschaft immer stärker zu einem Bedürfnis entwickelt. Gerade die Altersgruppe, die in den nächsten Jahren in das Rentenalter eintritt, wird die Selbstbestimmung stärker einfordern als je zuvor.
Unabhängigkeit ist jedoch nicht unbegrenzt. Wieviel Selbstbestimmung kann einem Menschen in palliativer Behandlung überhaupt vermittelt werden? «Die Bewohnenden und ihre Angehörigen bestimmen, was sie wollen; wir sind nur die Ausführenden», antwortet Marianne Bärtschi. Die Pflegeexpertin formuliert den Grundsatz der «Palliative Care» innerhalb der «tilia»-Gruppe so: «Es ist eine fragende Behandlung, nicht eine wissende oder belehrende. Also Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung.» Auf Augenhöhe zu sein mit den Bewohnenden, ihnen eine sinnstiftende Lebensaufgabe zu vermitteln bis zum letzten Atemzug, das sei der Kern der Behandlung. Oder, wie Marianne Bärtschi die tägliche Arbeit mit Menschen in palliativer Behandlung zusammenfasst: «Die Wissenschaft ist nicht ausschlaggebend, sondern die Bewohnerinnen und Bewohner.» Die Akzeptanz vom Sterben als Teil eines Menschenlebens erhält aus den Erkenntnissen einer Pflegeexpertin eine wohltuend beruhigende Dimension. Alleine deshalb, weil der Tod als Normalität erscheint und damit kein Thema ist, das verdrängt wird.
Palliative Care als Haltung
In der öffentlichen Wahrnehmung hingegen verhält es sich anders. Solches sensibel zu kommunizieren und Schwellenängste abzubauen, ist die Aufgabe von Christine Chappuis, der Kommunikationsbeauftragten der «tilia»-Gruppe. «‹Palliative Care› ist eine Behandlung und eine Haltung zugleich», sagt sie, «eine Haltung, die an allen 6 Standorten der tilia-Stiftung in der Region Bern gelebt wird.» Das Vorbeugen, Erkennen und Lindern der Symptome bezeichnet sie als Grundlage palliativer Behandlung, als deren oberster Wert die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Angehörigen steht. «Die Behandlung erfolgt interdisziplinär und auf verschiedenen Ebenen. Dazu gehört nicht nur die physische, sondern auch die psychische, soziale und spirituelle Ebene.» Palliative Care wird bei der tilia-Stiftung seit fast 20 Jahren gelebt. Nach einer ersten Zertifizierung vor 3 Jahren folgte nun die Neu-Zertifizierung für alle Standorte, jeder mit einer eigenen «Palliative Care»-Fachgruppe; dazu kommt eine übergeordnete Fachgruppe. «Die Zertifizierung kam nicht von aussen als Bedürfnis», sagt Christine Chappuis, «sondern es ist uns selber sehr wichtig.» Die Vorteile einer Zertifizierung liegen unter anderem darin, dass allen Massnahmen, Ideen und Erkenntnissen ein konzeptioneller Rahmen gegeben wird.
Lebensqualität als höchstes Gut
Dieser gewährleistet die Einhaltung von definierten Anforderungen und qualitativ guten Abläufen. Dazu gibt es messbare Faktoren als wichtigen Bestandteil für ein menschenwürdiges Leben in der schwierigsten Lebensphase. «Die wichtigste Aufgabe für uns ist der respektvolle, vorsichtige Umgang und vor allem das Bewusstsein, dass man uns Menschen anvertraut. Es ist sehr schön zu verfolgen, dass das Heim zu einem Lebensort wird.» Christine Chappuis weiss, dass allein der Eintritt in ein Heim schwierig ist. Erst recht, wenn dieser Schritt in die «Palliative Care» führt. Nicht nur für die Betroffenen. «Ihre Angehörigen tun sich ebenfalls schwer damit, machen sich oft ein schlechtes Gewissen.» Sie weiss auch, dass der Sterbeprozess in der Gesellschaft immer noch ein Tabuthema ist, gerade deswegen spiele das engste Umfeld von Betroffenen eine sehr wichtige Rolle und könne zur Enttabuisierung einen Beitrag leisten. «Einen Heimaufenthalt können wir nie so gestalten wie ein Zuhause. Hingegen können wir ein hohes Gefühl an Geborgenheit schaffen.» Dazu braucht es Ersatz für die täglichen Gewohnheiten. «Wir wollen die Lebenswelten der Bewohnerinnen und Bewohner kennenlernen», nennt Marianne Bärtschi einen wesentlichen Punkt, «wir müssen merken, dass es manchmal gar nicht mehr braucht als alltägliche Dinge.» Dabei wird versucht, die Menschen über ihre sinnlichen Wahrnehmungen zu berühren. «Für die eine Person nimmt der Koch eine speziell wichtige Rolle ein, bei der anderen kann es eine Pfarrerin sein. Oder die Therapeutin, die zur Lieblingsmusik mit der Patientin arbeitet.»
Der Einbezug von Angehörigen
Um solches überhaupt feststellen zu können, haben alle Betroffenen eine Bezugsperson an ihrer Seite. Die Fähigkeit zur Wahrnehmung sei die wichtigste Voraussetzung, um überhaupt Einblick in die Bedürfnisse der Betroffenen zu erhalten. «Auch bei Demenz-Erkrankungen», so die Pflegeexpertin, «ist es möglich, aufgrund von Signalen und des Verhaltens zu Erkenntnissen zu gelangen.» Zu Erkenntnissen, die den Pflegenden Antworten geben, was für die Patienten noch machbar ist, wie Erleichterung geboten werden kann oder was die Patienten erledigt haben möchten. «Im Wissen, dass es ein Abschied in Raten ist.»
Eine besondere Herausforderung stellt Marianne Bärtschi oft bei Frauen fest: «Die enormen Aufgaben, die sie in ihrem Leben bewältigt haben, waren häufig vorbestimmt. Die Frauen taten das, was von ihnen erwartet wurde. Und plötzlich sind sie bei uns, mit Fragen nach dem Sinn des Lebens.» Auch in diesem Zusammenhang unterstreicht Marianne Bärtschi die Wichtigkeit der Rolle, welche Angehörige von Menschen in Palliativbehandlung übernehmen: «Für den Umgang mit Angehörigen gibt es ein separates Konzept. Sie sind nicht Besucher, sie gehören dazu; denn sie sind selber betroffen und haben teils mehr zu verarbeiten als die Patienten. Deren Angehörige sind rund um die Uhr willkommen, inklusive gemeinsamer Übernachtung mit ihnen. Wenn Angehörige es wünschen, haben sie die Möglichkeit, aktiv bei der Pflege mitzumachen.» Innerhalb dieses Konzepts erhalten die Pflegenden wertvolle Hinweise über die Hintergründe und Erwartungen der Betroffenen, sie helfen mit, deren letzte Wünsche zu klären. Zudem fördern diese Massnahmen das Vertrauen der Angehörigen gegenüber dem Heim und der Arbeit des Pflegepersonals. Aus ihrer praktischen Erfahrung weiss Marianne Bärtschi: «Der Trauerprozess wird für die Angehörigen fassbarer, weil sie darauf vorbereitet sind.»
Ausbildung auch für Freiwillige
Der Prozess der Begleitung von Menschen auf ihrem letzten Weg ist belastend; für alle, die in den Verlauf einer Krankheit involviert sind. Das gilt auch für die Pflegenden. «Weil sie sich stark mit sich selbst auseinandersetzen müssen und damit mit dem Bewusstsein, dass auch ihr Leben nicht unendlich ist. Oder das Leben jener Menschen, die ihnen am nächsten sind.» Nicht alle können das. Diejenigen, die sich das zutrauen, müssen entsprechende Voraussetzungen mitbringen, geschult, vorbereitet und betreut werden. «Das wichtigste für die Pflegenden sind ausgeprägte empathische Fähigkeiten», sagt Christine Chappuis, «sie müssen merken, wann jemand oder etwas beigezogen werden muss. Das braucht hohe Aufmerksamkeit und Wachsamkeit.» Die tilia-Stiftung bietet interessierten Mitarbeitenden eine interne Weiterbildung an. «Auch externe Freiwillige, die aus völlig anderen Berufen stammen, sind willkommen», ergänzt Marianne Bärtschi. Sie werden ausgebildet, betreut und können mit Betroffenen Aktivitäten mitgestalten, die ihnen selbst zusagen. Und die den individuellen Wünschen und Bedürfnissen von Menschen in palliativer Behandlung entsprechen. Das kann beispielsweise ein Tanz-Nachmittag oder eine Jass-Runde sein.
Dadurch kann ein starker Beitrag zu dem geleistet werden, was Christine Chappuis als zentralen Punkt formuliert: «Die Palliative Care soll keinen erkennbaren Unterschied zum Heimalltag machen. Sie muss ein selbstverständlicher Teil davon sein.»