Mit schnarrender Stimme macht uns der Pilot darauf aufmerksam, dass wir gleich landen werden. Endlich! Unter uns sehe ich die Lichter Havannas immer näher kommen. Ich spüre das wohlbekannte Kribbeln im Bauch – wie wird es diesmal, Neuland zu betreten? Ich habe zwar bereits Erfahrung mit Südamerika, aber Kuba ist ein ganz anderes Kaliber. Von dieser Insel habe ich kaum eine Vorstellung. In meinen Gedanken mischen sich Rum, Salsa-Rhythmen, karibisches Klima, Armut und die Gesichter von Fidel Castro und Che Guevara zu einem vagen Bild. Entsprechend gespannt bin ich darauf, was ich hier wirklich entdecken werde. Vor uns liegen vier Wochen, in denen wir Kuba vom westlichsten bis zum östlichsten Punkt durchreisen wollen.
Schweine traben aus dem Dickicht am Wegrand mitten auf die Fahrbahn, ab und an auch ein Leguan und immer wieder ganze Scharen von Krabben, die panisch seitwärts wegtrippeln. Die Fahrt in den Westen hat es in sich. Weisser Strand, warmes und klares Türkiswasser, leuchtender Sonnenuntergang warten aber am Ende auf uns. Auf dem Rückweg nach Pinar del Rio lernen wir erstmals kubanischen Geschäftssinn kennen. Wir haben einen Platten. Im Dorf ist man hilfsbereit, man weist den Weg zum Haus des Poncheros (Reifenflicker). Der schnauzbärtige Señor mit Latzhose ist ein zäher Verhandlungspartner – wir sind uns nicht sicher, ob wir zu viel für zu wenig bezahlt haben. Unsere ersten Tage auf der Insel plätschern dahin, wir gewöhnen uns an die Sprache, die verschiedenen Währungen und den Alltag. Dann zieht es uns nach Osten.
Es ist heiss, die Sonne brennt auf die staubigen Strassen von Santa Clara, in der Ferne türmen sich bereits dunkle Wolken auf. Wir trotten vom Zentrum langsam in die Aussenbezirke der Stadt, Autos, Fahrradtaxis und Pferdekutschen überholen uns. Endlich erhebt sich vor uns das Monument, der einzige Grund, wieso wir Santa Clara angesteuert haben: Che Guevara. Held der kubanischen Revolution vor fast sechzig Jahren, Ehrenbürger und Freund Fidel Castros, argentinischer Arzt, Guerillaführer und überzeugter Marxist. Die Menschen verehren ihn, er war einer von ihnen. Santa Clara ist seine Stadt und heute, am 9. Oktober, sein Todestag. «Fue una estrella que te puso aquí» steht in grossen Lettern auf einem Banner neben dem Denkmal. Es war ein Stern, der dich hierhin gebracht hat. Etwas sehr pathetisch, aber reisserische politische Wandmalereien sind allgegenwärtig in Kuba. Wir schaffen es noch trocken in einen Imbiss, dann bricht das Unwetter los. Eingepfercht im Sandwichladen beobachten wir das Spektakel am Nachthimmel. Ein bisschen wie Kuba selbst, finden wir. Temperamentvoll, leidenschaftlich und gleichzeitig gelassen abwartend.
Ich liege am Strand, lese und lasse Seele und Gedanken baumeln. Mein Bruder ist auf einem Tauchausflug, ich habe Zeit. Seit ein paar Tagen sind wir in Trinidad, einem kleinen Städtchen mit Kopfsteinpflaster, ruhigen Gässchen und unzähligen Souvenirshops. «Darf ich mich zu dir setzen?», fragt Felix. Er arbeitet an der Strandbar, hat einen stattlichen Bauch und ein freundliches Gesicht. Schnell sind wir ins Gespräch vertieft. «Meine Schwester arbeitet als Lehrerin, sie ist technische Ingenieurin», erzählt er mir. Damit verdiene sie 15 CUC (Kubanische Dollar) pro Monat. «Als Putzfrau in einem Gästehaus kannst du 40 bekommen.» Auch als Taxifahrer verdient man mehr. Vom Staat kommen nur monatlich Lebensmittel und Alltagsgegenstände auf Marken. Trotz allem sei Kuba ein kleines Paradies. Die Kubaner, so sagt er, seien offene Menschen und sehr interessiert an der Welt «da draussen». «Amistad, simpatía y ayuda», zählt Felix die drei wichtigsten kubanischen Werte an seinen Fingern ab – Freundschaft, Wohlwollen und Hilfe. Er grinst und ergänzt: «Und Geld.» Zurück in Trinidad verbringen wir den Abend bei einem guten Glas Rum auf der Tanztreppe, schauen den Paaren beim Salsa zu und besprechen unsere nächste Etappe. Unsere anfängliche Idee, bis ganz in den Osten zu reisen, müssen wir definitiv aufgeben. Der Hurrikan Matthew hat die Insel zwar weniger heftig getroffen als erwartet, die Schäden sind aber beträchtlich. Als Tourist bis in die betroffenen Gebiete zu reisen, wäre nicht richtig. Wir fahren bis Santiago.
Alejandro ist Musiker und spielt – wie könnte es in Santiago, der Hauptstadt des Son anders sein – in einer Salsaband. In den nächsten Tagen begleiten wir Alejandro zu Konzerten und Proben. Immer gut gelaunt weiht er uns in seinen grössten Traum ein: Karriere in Europa. Für ihn als jungen Musiker könne es nur in Europa weitergehen, erklärt er sehr selbstbewusst. Miguel verdreht die Augen. Er ist der Techniker der Band. Bei einem Bier diskutieren wir über die Situation in Kuba und bei uns. «Wenn du eine Zukunft haben willst, dann wirst du Arzt», weiss Miguel zu berichten, «das ist unser Exportgut». Ansonsten stehe man trotz guter Ausbildung auf der Strasse, Arbeitsplätze habe es viel zu wenige. «Die Situation wird sich nicht ändern», meint er achselzuckend. Die Revolution sei sehr wichtig gewesen für das Land, aber nach sechzig Jahren sei es Zeit für einen Wandel. Er ist überzeugt, dass nach Fidel Castros Tod nichts anders wird, ein weiterer Castro stehe sicher bereit. Mit viel Humor und bewegter Mimik nimmt er die pa-
triotischen Wandmalereien auf die Schippe. Wir geniessen die Zeit in Santiago mit Alejandro und seiner Band. Dann ist es Zeit für den Abschied. Von Santiago, den Musikern und meinem Bruder. Er fliegt zurück nach Hause, mir bleibt noch eine gute Woche Zeit. Am frühen Morgen lasse ich mir von meinen Gastgebern den Weg nach Gibara erklären, einem kleinen Hafenstädtchen. Tatsächlich finde ich die Haltestelle und fahre bald eingequetscht zwischen Kubanern in Richtung Meer. Unser Gefährt holpert beträchtlich und nach einer Polizeikontrolle und zwei Stunden Fahrt steige ich mit schmerzendem Rücken in Gibara aus. Ich fühle mich beobachtet, anscheinend bin ich die einzige Touristin und meine westliche Herkunft kann ich beim besten Willen nicht verbergen. Pfiffe und Sprüche kann ich problemlos ignorieren, es gehört zum Spiel hier. Trotzdem reagiere ich misstrauisch, als mich ein junger Mann anspricht. Mein Misstrauen verschwindet bald. Francisco ist Automechaniker, arbeitet aber auf eine Stelle als Touristenführer hin. Sein Ehrgeiz ist gross, er will sich auf Deutsch unterhalten und bittet mich, ihn auf allfällige Fehler aufmerksam zu machen. Wo andere Kubaner ein glänzendes Bild von Kuba malen, verwendet er düstere Farben. «Man kann sich nicht offen äussern, es gibt überall Spitzel für die Partei», berichtet er. Es herrsche Mangel an allem, Nahrung, Arbeit, Geld und Infrastruktur. Während in Havanna zu Kundgebungen gegen die amerikanische Wirtschaftsblockade aufgerufen wird, sitzt Francisco da und schüttelt den Kopf. «Das bringt nichts», seufzt er, «das Geld würde sowieso nur in die Taschen von ein paar wenigen wandern.» Doch aufgeben will er nicht.
Der Wind zerrt an meinen Haaren und treibt mir salzige Luft ins Gesicht. Das Meer vor mir bäumt sich immer wieder auf, tobt wie ein gewaltiges Ungeheuer und spuckt an Stelle von Feuer grosse Wasserfontänen über die Mauer der Hafenstrasse. Ab und zu müssen Spaziergänger ausweichen, lachen aber, wenn die Wellen sie dennoch erwischen. Ich stehe am Malecón, der berühmten Promenade von Havanna. Das Schauspiel ist faszinierend, Farbe und Form des Meeres wechseln ständig und im Licht des Spätnachmittags wirken die alten Gebäude entlang der Stras-
se nicht mehr baufällig, sondern beinah idyllisch. Ich schlendere die Strasse entlang in Richtung Habana Vieja. In den Gassen herrscht ein buntes Treiben, es wird gebettelt, gehandelt, Musik gemacht, gemalt, lautstark diskutiert, geraucht und Kaffee und Rum getrunken. Die Kulisse ist malerisch, zurechtgemachte Häuser schmiegen sich an baufällige, einige von Balken abgestützt, andere ohne Fenster und Türen. Der Glanz vergangener Tage ist aber immer noch zu sehen. In den letzten vier Wochen, in denen ich durch Kuba gereist bin, habe ich gelernt, wie lebensfroh, vielseitig und gegensätzlich die Insel und ihre Bewohner sein können. Es scheint auf Kuba alles zu geben und dennoch mangelt es an allem, die Situation ist vielschichtig. Das Bild dieser Insel, das ich mit nach Hause nehmen werde, ist zwar deutlicher und bunter geworden, angereichert mit vielen Geschichten und Schicksalen von Menschen, die ich getroffen habe. Doch wird mir Kuba bis auf weiteres ein schönes, vielschichtiges Rätsel bleiben.