Kaum wurden die Türen geöffnet, waren sie da: 100 meist junge Männer, vorwiegend aus Afghanistan, Syrien, Iran, Irak, vereinzelt auch aus Sri Lanka und Westafrika. Innerhalb von zehn Tagen war die Unterkunft belegt. «Ja», bestätigt Ursula Schär, die Zentrumsleiterin von der Heilsarmee Flüchtlingshilfe, «es war und ist eine grosse Aufgabe, die Zeit zur Vorbereitung war sehr kurz.» In Zusammenarbeit mit der Schule Niederscherli – diese grenzt direkt an die unterirdische Anlage – und in Anwesenheit von Vertretungen der Heilsarmee, des kantonalen Migrationsdienstes sowie des Ortsvereins informierte der Gemeinderat am 21. Oktober die Bevölkerung.
Keine Ablehnung spürbar
Nennenswerten Widerstand gab es nicht. Es scheint so, als ob die Aufnahme von Flüchtlingen – der Bund weist dem Kanton Bern gemäss einer festgelegten Quote zirka 200 Asylsuchende pro Woche zu – je länger je mehr zur Normalität wird. Erhält die stark politisch geprägte Debatte rund um das Asylwesen dadurch die Chance, zur Vernunft zu finden? Ursula Schär sieht diesbezüglich tatsächlich Fortschritte. Die vom Regierungsrat eingesetzte «Task Force», in der Gemeindeverbände vertreten sind, leiste einen Beitrag dazu. Zudem, führt sie weiter aus, sei allgemein von einer abweisenden Haltung gegenüber Asylsuchenden weniger zu spüren als auch schon. Die Koordination aller Beteiligten sei besser geworden, ebenfalls die Unterstützung für Beschäftigungsprogramme. Für Ursula Schär und ihre Mitarbeitenden bleibt jedoch vorderhand kaum Zeit, sich mit grundsätzlichen Fragen auseinanderzusetzen. Viel zu umfangreich sind die Aufgaben kurz nach der Inbetriebnahme. Was steht denn im Vordergrund? «Die Unterkunft muss anders gestaltet werden, wir brauchen mehr Zeit zur Betreuung und vor allem soll eine Beziehungskultur aufgebaut werden. Die Asylsuchenden sollen sich unter Einhaltung von Regeln wohlfühlen.» Schliesslich sei eine Integration der Flüchtlinge in unsere Gesellschaft das oberste Ziel, und zwar im Interesse aller.
Integration über allem
Dies bestätigt auch Iris Rivas. Sie ist Leiterin des Migrationsdienstes des Kantons Bern (MIDI), welcher der Polizei- und Militärdirektion angegliedert ist. Sie weist darauf hin, dass für das Asylwesen der Bund zuständig ist, also auch für den definitiven Entscheid über das Schicksal eines Flüchtlings. Die Arbeit aller anderen Behörden und Institu-
tionen hat ausschliesslich ausführenden Charakter, betont Rivas. Und sie nennt Zahlen: Momentan befinden sich im Kanton Bern 36 Zentren mit insgesamt 3600 Asylsuchenden (Stand 4.12.2015).
«Das Anreizsystem zur Integration von Flüchtlingen ist verbesserungswürdig», ist Iris Rivas überzeugt. Auch deshalb sei die Zusammenarbeit unter den Direktionen verbessert worden, beispielsweise mit der Aufnahme der Thematik in der inter-
institutionellen Zusammenarbeit. Zeichnet sich bei Asylsuchenden eine freiwillige Rückkehr in ihr Heimatland ab, werden sie diesbezüglich intensiv beraten. Es werden zusammen mit ihnen Projekte ausgearbeitet und damit eine Perspektive aufgezeigt. «Wenn die Umstände im Heimatland eines Flüchtlings eine freiwillige Rückkehr zulassen, engagieren wir uns stark dafür.» Zudem erhalten sie eine finanzielle Unterstützung in Form einer Rückkehrhilfe. Diese kann mehrere tausend Franken betragen. «Der Kanton Bern», stellt Iris Rivas fest, «hat eine der höchsten Rückkehr-Quoten schweizweit».
Zerstörte Lebensgrundlage
Ridwan ist aus Syrien, jetzt ist er in Niederscherli. Nach einer mehrwöchigen Reise. In seiner Heimat war er Musiker und Sänger. Auch Protestlieder gegen das Regime hätten in sein Repertoire gehört, sagt er. Ob denn solches dazu beigetragen habe, dass er flüchtete, flüchten musste? Auch, antwortet er, in erster Linie seien jedoch die Lebensgrundlagen in seiner Heimat kaum mehr vorhanden. Zerstörung, allgegenwärtige Gewalt, Verfolgung, Armut: mit diesen Stichworten beschreibt er die Situation. Ridwan gehört zu den Wenigen im Zentrum, die ein paar Worte in einer Fremdsprache sprechen. Damit offenbart er stellvertretend für alle Flüchtlinge eine der grössten Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt: die fehlende Sprachkompetenz als wichtigster Schritt zur Integration. Dessen ist man sich auch bewusst in der Polizei- und Militärdirektion. Die Behörden und die Zivilgesellschaft seien gefordert, alles zu unternehmen, um eine Integration zu ermöglichen. Auch deshalb, so Andrea Blaser als
stellvertretende Generalsekretärin, weil durch Integration längerfristig Sozialkosten gespart werden können. Und weil ein Verfahren bis zum definitiven Entscheid jahrelang dauern könne. Fakt ist: Die Flüchtlinge sind da, die meisten bleiben bei uns. Und es werden vermutlich noch mehr. Auch Regula Unteregger, Vorsteherin des Sozialamtes der kantonalen Gesundheits- und Fürsorgedirektion, ist der Meinung, dass unter den gegebenen Voraussetzungen Integrationsbestrebungen die wichtigsten Massnahmen darstellen. Bereits im Asylverfahren sollten entsprechende Schritte getan werden, teilt sie mit, und ist überzeugt, dass der Kanton in der Lage sein wird, diese Aufgabe zu bewältigen. Der Regierungsrat habe
ein entsprechendes Massnahmenpaket beschlossen. Dieses wird dazu beitragen, «die Integration von Beginn an zu fördern und persönliche wie auch finanzielle Selbstständigkeit sowie soziale Teilhabe ins Zentrum zu stellen». Immerhin, schliesst sie, habe die Schweiz in der Vergangenheit immer wieder unter Beweis gestellt, dass sie in der Lage ist, ausserordentliche Integrationsleistungen zu erbringen.
Stellensuche ist schwierig
Die Gemeinden stellen die Unterkünfte zur Verfügung. Was können sie sonst noch beitragen? Die Konzentration, so Gemeindeschreiber Pascal Arnold, richte sich auf jene Arbeiten, die ohnehin in den Händen der Gemeinde sind und im Zusammenhang mit Asylsuchenden stärker ausgeschöpft werden. Eine transparente Informationspolitik nennt er als Beispiel. Dazu Koordinationsarbeiten zwischen allen Beteiligten, aber auch Kontaktpflege zu möglichen lokalen Arbeitgebern für die Flüchtlinge. «Asylsuchende», führt er aus, «dürfen bereits nach drei Monaten einer Arbeit nachgehen». Insbesondere berichtet er von den positiven Erfahrungen mit dem «Runden Tisch». An diesen setzen sich regelmässig Vertretungen von Gemeinde, Heilsarmee Flüchtlingshilfe, Schule, Schulkommission, Kantonspolizei, Migrationsdienst, Ortsverein, Feuerwehr und Kirchgemeinde.
Und was machen die Asylsuchenden derweil in Niederscherli? «Die wichtigste Aufgabe für uns», sagt Ursula Schär dazu, «ist die sinnvolle Beschäftigung der Flüchtlinge und der Aufbau der Beziehungspflege untereinander». Sie bezeichnet die Stimmung als gut, diese darf nicht kippen. Also müssen die Asyl-
suchenden mit den Lebensgewohnheiten bei uns vertraut gemacht werden, in der ersten Phase mit alltäglichen Tätigkeiten wie Einkaufen oder der Benutzung des ÖV. Innerhalb des Leistungsvertrages zwischen dem Kanton und der Zentrumsleitung, erhält diese 36 Franken pro Tag und Flüchtling. Davon bekommt jeder Asylsuchende zehn Franken. Mit diesem Betrag muss er seinen täglichen Unterhalt bestreiten. Dazu gehört auch die Ernährung, die Flüchtlinge bereiten sich ihre Mahlzeiten selbstständig zu.
Hilfe durch Bekannte
Die Bewohner des Zentrums werden medizinisch untersucht, Gesundheit und Hygiene werden grossgeschrieben. Besteht ein Verdacht auf Traumatisierung, wird die Opferhilfe vom SRK beigezogen. Der Aufbau der Freiwilligenarbeit, die Suche nach Beschäftigungsprogrammen, Koordinationsarbeiten mit der Schulleitung zur Benutzung des Fussballplatzes: Dies sind nur ein paar der Aufgaben, welche die Zentrumsleitung angehen muss. «Glücklicherweise», fährt Ursula Schär fort, «erhalten Asylsuchende oft Unterstützung durch bereits anwesende Flüchtlinge, vielleicht sogar Freunde oder Familienangehörige».
Es gibt noch viel zu tun. Nicht nur für Ursula Schär mit ihrem Team. Denn die Debatte rund um das Asylwesen ist und bleibt kontrovers. Was in einer gelebten Demokratie durchaus sein darf. Dafür, so scheint es, konzentrieren sich alle beteiligten Kreise stärker denn je auf das, was zu tun ist. Ohne gegenseitige Schuldzuweisungen. Und wenn keine Wahlen anstehen, verzichtet wohl auch die Politik darauf, das Asylwesen als Plattform für Meinungsmache zu benutzen. Das wird der Thematik gut tun.