Haben dir deine Lippen im Spiegelbild etwa auch schon die Worte «Na, jetzt tu doch mal nicht so eitel» entgegengeflüstert? Du streichst dir deine Haare hinter die Ohren, trägst ein wenig Lippenstift auf und bist eigentlich ganz zufrieden mit dem, was du gerade siehst. Doch zu lange in den Spiegel schauen gehört sich nicht: Du willst ja nicht arrogant wirken.
Als Kind wird Eitelkeit schon früh verpönt: Wenn sich das Mädchen im neuen Kleidchen vor dem Spiegel zu lange dreht, oder der Junge mit seiner Frisur unzufrieden ist, kommen Sprüche von den Erwachsenen. Als Teenager hören wir dann, dass Hochmut vor dem Fall kommt, und als erwachsener Mensch wird man im Beruf für seinen Erfolg oder vom Freundeskreis gar für sein Aussehen beneidet. Ja, da ist es einfach, als eitel betitelt zu werden. Denn wer eitel ist, der ist hochnäsig, der hält zu viel auf sich selbst und ist gar oberflächlich.
Wenn wir nun der Eitelkeit ein gesundes Mass geben würden, einen anderen Namen, wie zum Beispiel Selbstliebe, Selbstrespekt oder Selbstwert, wie würde es dann aussehen? Wie würden wir uns dann verhalten? Würden wir uns dann nicht gerne pflegen, Sorge zu uns tragen und achtsam mit unserem Körper sein? Würden wir dann, wenn wir Sport treiben, von unserem Umfeld gelobt und motiviert werden, statt als eitler Geck betitelt zu werden? Wären wir es uns dann nicht wert, am Morgen ein wenig Zeit in uns selbst zu investieren? Wir würden wahrscheinlich unsere Haut, unsere Zähne und unsere Haare besser pflegen. Wir würden uns wohl ein wenig mehr Zeit beim Ankleiden nehmen, ein wenig mehr auf die Details achten. Wir würden uns dann aber auch mit einem Lächeln im Spiegel anschauen und uns sagen, dass wir bereit für den Tag sind und unser Bestes geben. Unsere Augen würden ein wenig mehr strahlen, unsere Zähne beim Lächeln ein wenig mehr blitzen und die Fältchen um unsere Augen würden uns attraktiver machen.
Ich gebe zu: Eine ausgeprägte Eitelkeit mag niemand und ist nicht nur für die anderen, sondern bestimmt auch für uns selbst, anstrengend und unbefriedigend. Doch der Selbstwert darf, das ist meine Beobachtung, bei den meisten Menschen gerne noch ein wenig steigen. Denn tragen wir Sorge zu uns selbst, fühlen uns wohl in unserer Haut und finden uns und unseren Körper schön, dann sind wir auch anders zu unseren Mitmenschen. Wir sind frei von Neid, von Lästereien und von Unsicherheit. Wir können uns für andere freuen, jemandem etwas von Herzen gönnen und auf Augenhöhe kommunizieren.
Ja, ich bin ein bisschen eitel und gebe es offen zu. Ich hoffe, du bist es auch?
Und nun gehe ich vor meinen Spiegel und mache mich für diesen wundervollen Tag bereit, wer weiss, vielleicht begegnen wir uns ja sogar?


