Ein Vagabund und Urgestein verabschiedet sich

Ein Vagabund und Urgestein verabschiedet sich

Im Sommer 2023 zieht es René H. Bartl und seine Frau, Sylvia Rentsch, zurück in die alte Heimat, ins Baselbiet. Der Umzug geschieht aus Gründen der Vernunft, sein Herz trennt sich (nach 41 Jahren im Kanton Bern) ungern von der Region: «Es war eine schöne Zeit hier. Ich danke allen, die mich auf meinem Weg unterstützt haben.» Im Herbst dieses Jahres soll ein autobiografisches Sachbuch erscheinen, in welchem er sein Leben Revue passieren lässt.

«Mit meinem Buch mit dem Arbeitstitel ‹Der Vagabund in mir› versuche ich, Leute anzustossen, über ihr eigenes Leben nachzudenken», sagt Bartl. Seine Geschichte beginnt im Basler Rheinhafen, einem Quartier, das für seine Armut bekannt war. Die Mutter war Verdingkind, der Vater Koch mit aristokratischem Hintergrund. «Meine Jugend war nicht nur schön», erzählt der 74-Jährige. «Wir wussten nie, ob wir am nächsten Tag etwas zu essen haben. Diese Erfahrungen haben mich geprägt und zu dem werden lassen, was ich heute bin.» Mit 12 Jahren begann er als Ausläufer zu arbeiten. Mit 15 Jahren begann er die Schreinerlehre und verdiente sich abends im Verkauf etwas dazu. In seinem Leben hat Bartl viele Hüte getragen: Pfadfinder, Musikant, Handballer, Schiedsrichter, Trainer, Schauspieler, Autor, Turniertänzer, Grenadier, Taxifahrer, Sozialpädagoge, Supervisor, Heimleiter, Privatbeistand. Sein Antrieb war oft Reaktanz. «Wenn mir jemand sagte: ‹Das schaffst du nicht›, war das die beste Motivation.» 

Wegen des Konkubinatsverbots in Basel heiratete er jung und litt daran, dass er seine Träume aufgeben musste. Mit 25 wurde aus dem «Vagabunden» ein Vater und Sozialpädagoge, was ihm half, sesshaft zu werden, «weil ich im Leben der Menschen unterwegs war.» Bartl behauptet von sich, seither keinen Tag gearbeitet zu haben – er sei lediglich seiner Leidenschaft gefolgt. Bis 1981 arbeitete er im Kinderheim Sommerau in Rümligen, wechselte dann ins Burgerliche Waisenhaus Bern und zog nach Münchenbuchsee, wo er unter anderem die Jugendarbeit aufbaute. Mit 35 absolvierte er die Supervisor-Ausbildung am IAP in Zürich und eröffnete seine Beratungspraxis.

Nach Guggisberg kam Bartl wegen seiner Nichten, die ins Dorf geheiratet hatten. 1997 erwarb er die Liegenschaft «Dorf 77B», baute sie um und eröffnete ein Seminar- und Lagerhaus. Um die Jahrtausendwende störte ihn, dass Kinder und Jugendliche immer noch aus ihren Familien, ihren Schulen, aus Heimen und Kliniken ausgeschlossen wurden. Ihre einzige Alternative war oftmals ein Eintritt in eine geschlossene Institution oder ins Gefängnis. Der Akademisierung der Sozialpädagogik steht er deshalb skeptisch gegenüber: «Das Personal ist immer besser ausgebildet und dennoch fallen noch immer Jugendliche aus den Heimen. Für mich war Erfahrung immer wichtiger als die Theorie.» Als Reaktion schloss er sein Tagungszentrum, zog 2003, nach der Trennung von seiner ersten Frau, nach Guggisberg ins Bisenfeld. Er gründete die Stiftung «Urgestein» und eröffnete das Wohn-, Schul- und Therapieheim «WG Guggisberg 77B», wo er Jugendliche aufnahm, die sonst niemand wollte. Damit hatte er eine Marktlücke entdeckt und arbeitete mit 12 Kantonen zusammen.

2008 kaufte er die Liegenschaft «Mühle» im Dorf 70B zur Erweiterung der WG und lebte auch selbst im Haus. 2010 zog er um nach Rüschegg Heubach, 2014 liess er sich pensionieren und fand einen Nachfolger für die Institution. 2016 bis 2020 war er Präsident des Vereins Jugendarbeit Region Schwarzenburg. Danach beschloss er, kürzer zu treten, und trennte sich auch von der Stiftung.

Zwei Dinge waren für Bartl immer zentral: Der Respekt vor der Person und die Unverletzlichkeit ihrer Würde. Er bezeichnet sich als «Beziehungsmensch», der Entwicklungen begleitet. «Ich höre gerne zu. Kein Mensch hat eine langweilige Geschichte. Indem ich zuhöre, lerne ich neue Dinge, die mich weiterbringen.» Bartl versteht sich auch selbst als Geschichtenerzähler. Das ist für ihn wichtig, denn «nur wenn Geschichten weitererzählt werden, können andere davon profitieren.»

Verschlossene Türen gab es für ihn nie. Höchstens Türen, welche die Jugendlichen selbst aufstossen mussten, um wieder unter sein Dach zu kommen. Bartls Credo: «Wer Hilfe sucht, zeigt Grösse. Der Helfer macht nur seine Arbeit.» Er habe den Jungen immer gesagt: «Wenn du etwas brauchst, kannst du kommen. Aber die Entscheidung, ob du etwas brauchst, liegt bei dir. Du darfst Mist bauen, aber du musst es auch ausbaden.» Nicht alle haben seine Haltung verstanden: «Ich habe ein unbegrenztes positives Denken – das regt viele Leute auf. Meine Aufgabe als Sozialpädagoge ist, bei jedem Menschen nach dem Guten zu suchen. Aber ich habe nie missioniert», betont Bartl. Er denkt nicht in Glaubensrichtungen. Auch Gender und sexuelle Ausrichtung sind ihm unwichtig, die Gleichstellungsdiskussion ist für ihn müssig. Für ihn gibt es nur eine Kategorie: Mensch. Und jeder Mensch will und soll anständig behandelt werden. Mit mehr als 700 Jugendlichen hatte er in seiner 47-jährigen Karriere zu tun. Mit vielen von ihnen hat er bis heute Kontakt und weiss, wo sie im Leben stehen – ein Resultat von gelungener Beziehungsarbeit.

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