Vorsichtig fragend wendet sich Peter Gysling nach etwa einer Stunde an Daniel Müller: «Darf ich noch ein wenig, oder ist die Zeit schon überschritten?» Ja, er darf. Dem Vorsitzenden der Geschäftsleitung der SLR ergeht es gleich wie seinen Gästen, und am Schluss des Referates wird er sagen: «Wäre es doch in der Schule auch immer so spannend gewesen.» Tatsächlich, die Aufmerksamkeit der Zuhörer ist spürbar und in diesem Ausmass vermutlich eher selten in einem Schulzimmer. Was nicht überrascht, denn der Korrespondent, Journalist und Buchautor Peter Gysling war als Berichterstatter dabei, als sich die Welt veränderte. Er war dabei, als Michail Gorbatschow, letzter Staatschef der Sowjetunion, im Jahr 1991 verkündete, dass sein Land nicht mehr existiere. «Immer wieder», so Peter Gysling zu Beginn seines Vortrages, «passieren in der Welt Dinge, die niemand für möglich gehalten hat.» Dazu gehört die Erkenntnis, wie schnell vermeintlich gefestigte Systeme zerfallen können. Erstaunlich ist für ihn auch ein anderer Aspekt: «Es hat eine Faszination, wie schnell sich der Mensch mit einer neuen Ordnung abfindet.» Dass der Redner die Zuhörerschaft derart in seinen Bann zieht, hat mit seiner Persönlichkeit zu tun. Unstillbar scheint seine Neugier gegenüber dieser riesigen Region. Seine Liebe zu Russland und der Ukraine, zu den Ländern im Kaukasus und in Zentralasien sowie zu den Menschen, die dort leben, ist offensichtlich. «Der Übergang in ein anderes System war ruppig für die Bevölkerung. Das Rechtswesen für Privateigentum fehlte und die Menschen mussten feststellen, dass der Staat sie nicht mehr umsorgte.»
Das Erbe der Altlasten
Das habe dazu geführt, dass die Privatisierung vor allem einer kleinen Gesellschaftsschicht diente. «Die alte Garde pickte die Rosinen heraus.» Solche Machenschaften betrafen nicht nur Russland, sondern auch die meisten anderen der unabhängigen 14 Staaten, die aus den ehemaligen Sowjetrepubliken entstanden sind. Unabhängig von Russland, ist das so? Peter Gysling verneint, zu gross seien die Interessen und der Einfluss von Moskau. Er kennt das aus nächster Nähe, denn als Experte begleitet er Reisegruppen durch Russland und die meisten der ehemaligen Sowjetrepubliken. «Die erhoffte Modernisierung», stellt er fest, «ist in vielen dieser Länder nicht eingetroffen, das Wirtschaftswachstum ist zu niedrig.» Auffallend ist für Peter Gysling, dass vor allem die Länder im Kaukasus und in Zentralasien viele Altlasten geerbt haben. Erbschaften, die unter anderem auch die Umwelt betreffen. Als Beispiel erwähnt er den Aralsee, einst der viertgrösste Binnensee der Welt, in der Zwischenzeit um 90% geschrumpft. Durch Umleitungen grosser Wassermengen, verbunden mit der Bearbeitung des Bodens mit hochgiftigen Substanzen ist eine der grössten, vom Menschen verursachten Naturkatastrophen entstanden. Herausforderungen sind in dieser grossen Welt des Umbruchs zur Genüge vorhanden, betont Peter Gysling, besonders für die Bevölkerung. Er zieht einen Vergleich zur Schweiz, wo die vielen Abstimmungen oft als Zumutung oder gar Überforderung wahrgenommen werden. «Solche Herausforderungen sind nichts im Vergleich zu denen in dieser Region.»