Vor nicht all zu langer Zeit machten kantonale Vertreter an einem Workshop des Regierungsstatthalteramts in Kehrsatz keinen Hehl daraus, dass es ein Ziel sei, von heute über 300 Gemeinden auf unter 100 zu gelangen. Die geballte Abneigung der versammelten Gemeindepräsidentinnen schlug dem Vorhaben entgegen. Seither kamen viele neue Herausforderungen auf den Kanton zu. Vom Tisch ist diese Strategie deswegen aber noch lange nicht. «Den Druck spüren wir nun indirekt», verrät Markus Hirschi, Gemeindepräsident von Rüschegg.
Quellen des Problems
Ein vielsagendes Beispiel stellt die Wasserknappheit dar. Nur wenige Gemeinden haben genügend Wasser. Eine davon wäre Guggisberg. Die Betonung liegt auf dem Konjunktiv. Eine Quelle liefert Wasser für die Nachbargemeinde Schwarzenburg. Eine der eigenen Quellen von Guggisberg ist aber derzeit von drei Ämtern «beschlagnahmt». Sie liegt mittlerweile in einem Moorschutzgebiet. «Der Kanton baut laufend Schutzzonen aus und damit sind die bestehenden Quellen immer mehr in Frage gestellt», stellt Niklaus Köpplin, Gemeindepräsident von Guggisberg fest. Der Kanton will, dass die Gemeinden dann einfach neue Quellen suchen. «Das ist ein Luxusproblem», stört sich der Präsident. So wie Guggisberg ergeht es auch anderen Gemeinden in der Region. Die Gemeindepräsidenten kämpfen ums eigene Wasser. «Wir werden das Wasser brauchen, so lange die Qualität stimmt, wir haben schlicht keine andere Möglichkeit», sagt Köpplin besorgt. Wo will er zusätzliches Wasser herzaubern, wenn alles geschützt ist? Guggisberg könnte ein wichtiger Wasserlieferant für die Region sein, darf aber nicht. So kommt es zur – mit Verlaub – irrsinnigen Tatsache, dass Guggisberg Wasser von Köniz kauft und es hochtransportiert, nur weil man das eigene nicht verwenden darf. Die Ämter sorgen mit Erfolg dafür. Zusammengefasst: Guggisberg badete die Ämterpolitik aus, wenn es denn genügend Wasser zum Baden hätte.
Sparen verboten
Ein weiteres Beispiel, wie der Kanton die Gemeinden in Probleme manövriert, sieht man bei den Finanzen. Rund 70 % der Steuereinnahmen sind sogenannte strukturelle Kosten, sind also für Aufgaben von Bund und Kanton gebunden. Geschehen unvorhergesehene Ausgaben, rutschen die Gemeinden in rote Zahlen, verschulden sich weiter. Als die Finanzdirektorenkonferenz der Kantone das Harmonisierte Rechnungsmodell (HRM2) einführte und Bern im Jahr 2016 dieses zur Anwendung brachte, hat man den Fokus wohl wenig auf die kleineren Gemeinden gelegt. Das Problem: «Die Gemeinde darf keine Reserven bilden, respektive sparen», bedauert Hirschi. Gemeindepräsident Ruedi Anken aus Oberbalm ergänzt: «Zudem ist es ein komplexes Instrument, das uns immer wieder fordert.» Es ist ein Paradebeispiel für den indirekten Druck zur Fusion, denn grössere Gemeinden haben Spezialisten, die sich in diesem Modell auskennen, Milizsysteme stossen hierbei unweigerlich an ihre Kapazitätsgrenzen.
Unterlassene Hilfeleistung?
Nun könnte der Kanton Bern sich bei Engpässen kulant zeigen und Projekte finanziell unterstützen, wenn er denn wollte. Er tut dies vielerorts, das sei hier vorweggenommen. Aber die Beispiele aus Oberbalm, Guggisberg oder Rüschegg zeigen, dass er die Randgebiete effektiv als Randgebiete behandelt, respektive bei solchen ausserordentlichen Kosten kein besonderes Augenmerk auf die Probleme der ländlichen Gemeinden legt. Ein Beispiel stammt aus Guggisberg. Die Strasse in den Muscherenschlund muss auf einem Teilabschnitt auf Berner Boden saniert werden. Guggisberg wünscht sich, dass sich der Kanton daran beteiligt. «Das ist Grenzgebiet und verschiedene Akteure kommen hier zusammen, die Landwirtschaft, Forstbetrieb, Militär und Private», begründet Köpplin.
Landwirtschaft und Forst sind kantonal geregelt. Zudem ist der benachbarte Kanton Freiburg für seine Landwirte ebenfalls auf diese Strasse angewiesen. Das Delikate: der Kanton Bern hat signalisiert, nicht mitzuhelfen, Freiburg hingegen zeigt Interesse und Verständnis. «Man stelle sich vor, Freiburg würde das übernehmen, dann würde die Strasse der Gemeindehoheit enthoben und wechselte nach Freiburg. Die Freiburger Genossenschaft wäre die neue Besitzerin und die Gemeinde Guggisberg würde dann einfach Genossenschaftsmitglied», sagt der Gemeindepräsident und ergänzt: «Es wäre so einfach, alle Akteure hätten einen kleinen Teil bezahlt und es wäre schon lange saniert, stattdessen flicken wir weiter Löcher und tragen diese Unwetterkosten weiterhin selbst.»
Weit weg
So ländlich wie Rüschegg oder Guggisberg ist auch Oberbalm. 862 Einwohnerinnen und Einwohner auf 12 Quadratkilometern oder weniger als 70 Personen pro Quadratkilometer. Die Schweiz hat im Schnitt 217, Genf gar deren 2000. Und trotzdem: «Oberbalm ist in der städtischen Prämienregion 1 klassiert, genaugleich wie Köniz und die Stadt Bern», sagt Anken. Einfach gesagt: Oberbalm wird wie eine Stadt zur Kasse gebeten, was einen Unterschied von über 600 Franken pro Einwohnerin macht. Der Gemeindepräsident hat sich dagegen gewehrt. Sie ahnen es: vergebens. «Offenbar haben die kantonalen Vertreter den Weg nach Oberbalm noch nie gefunden, sonst würden sie relativ schnell erkennen, dass wir hier ziemlich wenig mit einer Stadt gemeinsam haben», stellt er fest. Auch das ein Fusionsdruck. Oberbalm müsste sich dann halt einfach mit Köniz zusammentun. Doch Anken lacht: Die Bevölkerung würde das nicht gutheissen, wir haben noch heute über 70 Personen an den Gemeindeversammlungen. So ähnlich klingt es in Guggisberg bei der Frage nach einer Fusion: «In den nächsten 50 Jahren wird das nicht passieren», meint Köpplin bestimmt. Bern muss sich nicht wundern, weshalb diese Haltung eine grosse Mehrheit in der Gegend findet: «Unsere Ansprechpersonen sind in Ostermundigen, die kennen uns nicht und wir sie nicht. Früher war es Schwarzenburg, dann Belp, früher hatte man Bezugspersonen, um mal zusammen ein Problem anzuschauen», erklärt Köpplin. Hirschi ergänzt: «Viele kantonale Entscheide sind dann halt einfach gemeindefremd und für uns kaum nachvollziehbar.» Die Gegend wird kaum gehört, aber sehr wohl regiert. An der Regionalkonferenz könnten die Gemeinden ihre Anliegen vorbringen. Aber: «Als Gemeindepräsident einer kleinen Gemeinde wird man nicht unbedingt ernst genommen und auch nicht gewählt, selbst wenn man sich für die Geschäftsleitung zur Verfügung stellt. Wir dürfen vielleicht unter dem Traktan-
dum Verschiedenes etwas sagen, mehr nicht», sagt Anken. «Die Miliz hat uns stark gemacht, nun verlieren wir diese. Je weniger Kompetenzen man hat, desto weniger Leute findet man für unsere Aufgaben», ist sich Anken sicher. Der Weg geht Richtung Berufspolitik. Die drei Gemeindepräsidenten nennen allesamt mehrere Beispiele aus dem AGR (Amt für Gemeinden und Raumordnung). Deshalb meint Hirschi mit einem Schmunzeln: «Eigentlich heisst es doch Amt für Gemeinden und nicht gegen.»
Die Unbeugsamen
Die Region Gantrisch ist für den Kanton Bern ein unbeugsames Flecklein Erde. Wundern muss er sich mit Blick auf diese Beispiele nicht; und es gäbe noch einiges mehr zu berichten. Der indirekte Fusionsdruck erzeugt eine indirekte Abwehrhaltung und rückt das Ziel von weniger Gemeinden für den Kanton Bern im Gantrischgebiet wohl in weite Ferne. Die Bevölkerung wird sich damit schwer tun und die Gemeinderäte der Region reagieren mit einem Gegenmittel: Zusammenarbeit. Altersnetzwerk Gantrisch, der Zusammenschluss mancher Feuerwehr, Forst Gantrisch sind nur einige Beispiele, die zeigen, wie man im hier zusammenarbeitet, ohne die Eigenständigkeit zu verlieren. Die Gemeindepräsidenten der Region sitzen längst regelmässig zusammen und diskutieren ihre Probleme gemeinsam, ohne Regionalkonferenz oder andersweitig kantonalen Rahmen. Unter sich, konkret und gemeinsam. Man darf sogar vermuten, dass der Naturpark Gantrisch die Gemeinden zu mehr Zusammenarbeit animiert hat, vielleicht ist es auch diesem zu verdanken, dass der Kanton Bern eine solche Dynamik der Zusammenarbeit anderswo nicht kennt, wie Vertreterinnen aus der Regionalkonferenz berichten. Die Grossgemeinde Gantrisch ist in weite Ferne gerückt. Zumindest vorerst. Der Fusionsdruck wird dann direkter und konkreter, wenn neue Modelle über die Region gestülpt werden, denen auch eine solche Zusammenarbeit nicht mehr das Wasser reichen kann. Oder einfach gesagt: der Finanzhahn gänzlich zugedreht wird. Die Gantrischgemeinden sind deshalb auf die Grossrätinnen und Grossräte angewiesen. Sie können mit Motionen dafür sorgen, dass die Region langfristig gesichert werden kann. Ihnen kommt nun eine zentrale Bedeutung zu. Es ist keine Zeit für Hinterbänkler, sondern für Vorkämpfer. Der Naturpark Gantrisch ist eine Vorzeigeregion von nationaler Bedeutung, jedoch von kantonaler Vergessenheit. Deshalb hier noch ein Tipp an den Kanton Bern für die Zukunft: Die Grossgemeinde Gantrisch gibt es schon lange. Es ist die Zusammenarbeit vieler kleiner Ortschaften in einer lieblichen, wilden und mitunter harten Gegend. Eigentlich eine Vorzeigeregion, auf die der Kanton Bern stolz sein dürfte.
Was der Kanton Bern sagt
Die Redaktion wird die Thematik in zwei Teilen bearbeiten. Wir werden den Regierungsrat sowie das Regierungsstatthalteramt Bern Mittelland mit dieser Problematik konfrontieren. Somit werden wir den kantonalen Vertreterinnen und Vertretern den Raum und die Möglichkeit geben, sich diesen Vorwürfen zu stellen. Das geschieht in zwei Artikeln, damit wir beiden Seiten genügend Raum für ihre Sichtweise geben können. Wir möchten diesen Text deshalb nicht als einseitige Berichterstattung verstanden wissen, sondern als ersten von zwei Teilen. Besten Dank für Ihr Verständnis.
Die Redaktion