Heimweh, Existenzangst und Illusionen

Heimweh, Existenzangst und Illusionen

Die «Rundschau» vom Fernsehen SRF reist zweimal an, um das Fallbeispiel der 17 Ukrainerinnen in Vorderfultigen zu beleuchten; politisch, problematisch, pointiert. Was die Freiwilligen unter dem Projekt «Olga» tun, ist nichts mehr und nichts weniger, als die konkreten Probleme zu lösen.

Die letzten Fensterscheiben zerbersten, als die vierte Detonation in Butscha, einem Vorort von Kiew, den Boden zum Beben bringt. Aus allen Quartierstrassen ist das Wimmern der Kinder zu hören; höchste Zeit aufzubrechen. Nach vier Tagen Flucht und Ungewissheit erreichen 17 erschöpfte Frauen das Schulhaus in Vorderfultigen. Die regionale Flüchtlingsarbeit der vier Kirchgemeinden Riggisberg, Rüeggisberg, Wald und Oberbalm hat zusammen mit dem Projekt «Olga» der Organisation notbett.ch
und dank Zustimmung des Besitzers und der Hilfe der Gemeinde ein Zuhause geschaffen. Vorhänge trennen die einzelnen Parteien, Salon, Küche, Spielsachen, ja sogar ein Klassenzimmer für Deutschkurse. Doch es ist erstaunlich ruhig auf dem Pausenplatz bei jenem Schulhaus mitten in der Pampa. «Sie sind gerade in der Stadt», liest Nadine Maag die Gedanken. Gibt es Arbeit? Wer kauft Essen ein? Wie lange gilt die Gratis-ÖV-Benutzung noch? Bekommt man Geld? Wird man medizinisch versorgt? Ein Berg an konkreten Themen, den Renate von Ballmoos vom Pfarramt Oberbalm gemeinsam mit Nadine Maag von der Organisation notbett.ch managen.

Hilfe aufrechterhalten
«Wir haben Gäste aufgenommen, die Ferienstimmung ist aber langsam vorbei und jetzt beginnt der Ernst des Lebens», erzählt von Ballmoos. Manche möchten bleiben, andere suchen Arbeit, wiederum andere plagt das Heimweh und die Angst um den Partner, der an der Kriegsfront steht. «Die Herausforderung ist, dass man sie mit allem, was sie brauchen, versorgt und ein Leben vorgaukelt, das so nicht weiter geht», bezieht sich Maag auf die vielen Schweizer Familien, die ebenfalls Flüchtlinge aufgenommen haben. In Fultigen merkt man das bei der Freiwilligenarbeit. «Am Anfang ging eine Solidaritätswelle durch das Land, jetzt gibt es genauso viel zu tun wie am Anfang, aber die Welle flacht ab», fasst von Ballmoos zusammen.

Integration intensivieren
Bei den beiden Frauen ist das nicht der Fall. Wenngleich man die Anstrengung der vergangenen Wochen mit all den Abklärungen, Bedürfnissen und Sorgen spürt, der Krieg geht weiter und so tut es auch ihre Arbeit. «Kleidersäcke können wir bald nicht mehr sehen», sagt Maag exemplarisch für den Beginn einer neuen Phase. «Nun geht es um Kurse, Nachbarschaftsgestaltung und Integration im Dorf», erläutert von Ballmoos. Ein solches Beispiel ist das «Café Olga». Eine Begegnungsmöglichkeit in Rüeggisberg, um sich auszutauschen und zu vernetzen. Im Schulhaus sind helfende Hände ebenfalls willkommen, Kleider hingegen sind reichlich vorhanden.

Alltag im Kulturspagat
Inzwischen taucht eine Frau auf, sie ist nicht nach Bern gefahren und hegt eine Bitte an die beiden Macherinnen. So routiniert wie ein Wimpernschlag zückt Maag das Handy und lässt die ukrainische Frage übersetzen, diktiert die Antwort in ihr Telefon und hält für die Antwort den Lautsprecher in Richtung der Frau. «Ukrainer sind anders aufgewachsen als wir. Sie sind selbstsicher, wollen mitarbeiten und mitreden. Wir dürfen sie nicht bevormunden, sondern müssen ihnen Möglichkeiten geben, sich zu integrieren», verrät von Ballmoos. Das grosse Bedürfnis mitzumachen ist im Schulhaus ersichtlich. Zeichnungen zieren die Wände, die Küche ist bereit für die nächsten kulinarischen Aktionen, wo man Tristesse und Not vermuten würde, scheinen 17 Frauen alles daran zu setzen, ihre Herzlichkeit zu versprühen.

Ganz erstaunlich, nachdem sie alles zurückgelassen haben: ihre Heimat, ihre Sprache und häufig auch ihre Familie. Sie brauchen menschliche Zuwendung, unaufdringliche Betreuungsstrukturen und Begegnungsmöglichkeiten. Nadine Maag und Renate von Balmoos sind die Spitze eines Teams, das ihnen genau das zu geben versucht. Bescheiden wie die beiden Frauen aber sind, meinen sie nur: «Jedes Gesicht hat eine Geschichte. 6600 davon in Bern, 17 in Fultigen. Für uns sind das keine Zahlen, sondern Menschen, die alle ihr eigenes Schicksal mittragen.» Eines irgendwo zwischen Heimweh, Existenzangst und Illusion, aber wenigstens weit weg von der nächsten Detonation.

INFO: www.notbett.ch

Wieso «Olga»?
Am Freitag 4. März 2022 ist Olga im Haus «Sonnhalde» angekommen. Als sie den Bombenalarm hörte, war sie gerade auf der Arbeit. So ist sie ohne jegliche Möglichkeit auf Vorbereitung aus ihrem Land und Leben vertrieben worden. Nach vier Tagen Flucht und Ungewissheit kam sie als erste Frau in Riggisberg an. Im Gedenken an alle Vertriebenen und Heimatlosen will das Team ein Zuhause bieten und mit bestem Wissen und Gewissen eine neue Heimat (vielleicht auf Zeit) schaffen. «Olga» bedeutet «die Heilige» oder «die Geweihte». Zudem ist die Heilige Olga von Kiew die Schutzpatronin des Trostes.

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