Frau Kohl, was müssen die Menschen wissen, um sorgenfrei alt zu werden?
Im Alterungsprozess gibt es viele Fragen rund um den dritten und vierten Lebensabschnitt. Die Themen umfassen die Beratung und Pflegeleistung, Unterstützung im Alter, Wohnangebote, AHV, EL und IV oder die Vermittlung von Anlaufstellen in Lebenskrisen. Damit sich die Sorgen nicht verstärken, benötigt es Aufklärung.
Beispielsweise beziehen häufig bedürftige Menschen keine EL-Leistungen weil sie Angst vor der Stigmatisierung haben. Alleinstehende Rentnerinnen tragen hier ein grösseres Armutsrisiko.
Wer soll das alles klären können?
Das Ziel muss sein das jede Institution eine gesellschaftliche Verantwortung übernimmt. Besonders im ländlichen Raum gibt es nicht genügend Anlaufstellen. Hausärzte haben oft keine Zeit mehr, tiefgreifende Fragen zu klären, wenn es denn zukünftig überhaupt noch Praxen in der Nähe gibt. Da ist eine Lücke entstanden, die es zu schliessen gilt. Wir Pflegenden mit Gerontologischer Fachweiterbildung haben hier eine grosse Aufgabe zu übernehmen. Für dieses Jahr planen wir öffentliche Beiträge im Landhaus anzubieten. Wir starten im Juli zum Thema «Inkontinenz im Alter» und im September mit dem Thema «Demenz», wenn es Corona zulässt. Ziel ist es, die breite Bevölkerung zu erreichen.
Hilft die öffentliche Hand in diesen Bereichen? Es gibt punktuell Informationen und es gibt die Bundesstrategie 2020-2030 mit dem Ziel die Qualität der Versorgung zu erhöhen. Im Laufe meines Studiums der Gerontologie wurde mir bewusst, dass viele Menschen das Angebot nicht erreicht, vor allem jene die abgeschieden Gebieten ohne betreuende Angehörige. Besonders hier benötigt es eine bessere Ausgestaltung des Zugangs. Natürlich starten wir von uns aus und wollen die Lücke schliessen, um Aufklärung und Prävention zu betreiben. Das Ziel muss aber sein, dass die Behörden erkennen, dass Institutionen die Möglichkeit haben, zu Kompetenzzentren zu werden. Wir sind im Gebiet flächendeckend verteilt und verfügen über das nötige Wissen. Wir können die Aufgaben übernehmen und damit auch einen Teil zur Strategieumsetzung beitragen, hierfür ist es aber wichtig das uns Kommunen und Kantone unterstützen. Dafür möchte ich mich einsetzen.
Muss sich auch gesellschaftlich etwas ändern?
Vielleicht hilft eine solche Aufklärung auch, dass die negativ behafteten Stereotypen über das Alter kleiner werden. In den Köpfen vieler sind Alte in erster Linie gebrechlich und hilfsbedürftig. Der Fokus liegt bei mir aber darauf, dass Menschen immer Ressourcen haben und es doch unsere Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass sie alles im Rahmen ihrer Möglichkeiten sorgenfrei erleben können. «Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem aus man zugleich genauer und weitersieht», sagt Marie Luise Karschnitz. Das trifft es ganz gut finde ich.
Geht also das Landhaus Neuenegg mit gutem Beispiel voran?
In gewisser Weise schon, aber das ist eigentlich nicht so wichtig. Wichtig ist das wir uns alle als Teil der Gesellschaft sehen. Faktisch steigen die Gesundheitskosten, demnach ist die Prävention und Aufklärung wichtiger denn je. Diese Verantwortung wollen wir übernehmen. Konkret möchten wir die Umgebung von Neuenegg stärker miteinbeziehen und zu einem Alterskompetenzzentrum werden. Dennoch bedaure ich, dass die Politik sich in diesem Bereich bisher zu wenig engagiert hat. Es geht oft um Kosten und Fallpauschalen, das ist eine bedenkliche Entwicklung. Beispielsweise müssen viele früher vom Spital heim und können noch keine Reha beginnen oder diese endet noch bevor der Mensch wieder seine Selbstständigkeit erlangt hat. Hier versuchen wir eine Lücke im Versorgungssystem zu schliessen und nehmen Kunden*innen in dieser Phase und mit diesem Bedarf auf.
Wertet dieser Weg auf den Pflegeberuf auf?
Davon gehe ich aus. Wir haben den Beruf gelernt, weil wir eine soziale Verantwortung den Menschen gegenüber wahrnehmen möchten. Es ist zentral, dass bedürfnisorientierte Pflege möglich ist, damit diese Berufung gelebt werden kann. Wir alle tun dies mit Herzblut. Ich kämpfe dafür, diese wertvolle Zeit zu wahren, damit all die Massnahmen im Gesundheitswesen unsere Stärken nicht schwächen können. Immaterielle Aspekte sollten in der Arbeit mit Menschen wieder ein Mehrwert erhalten, damit stärkt man auch die Personalerhaltung-beschaffung sowie die Ausbildung im Gesundheitswesen.
Sacha Jacqueroud