In Bezug auf Fremde auf einem Auge blind

In Bezug auf Fremde auf einem Auge blind

Sie kommunizieren mit den Politgrössen der Schweiz und liefern markante Zeilen für die gewichtigsten Medien des Landes. Getrieben von den Missständen, in denen sich viele Flüchtlinge befinden, zwingen sie uns alle hinzuschauen, wo eine Mehrheit lieber wegschaut. Das ist der Kampf von Jürg Schneider und Daniel Winkler.

18 Monate lang waren zwei jugendliche Afghanen unterwegs. Zu Fuss durch die Wüste, versteckt am Unterboden eines fahrenden Lastwagens, in einem Schlauchboot auf dem Mittelmeer. Sie wurden verhaftet, sahen Menschen ertrinken, auf sie wurde geschossen. Was diese jungen Menschen überhaupt noch antrieb, war allein die Hoffnung auf ein Leben ohne Not und Elend. «Ich habe noch nie so müde Menschen wie diese Flüchtlinge gesehen», erinnert sich der Riggisberger Pfarrer Daniel Winkler an seine erste Begegnung.

Phänomen Riggisberg
Seine Gemeinde war die einzige im Kanton Bern, die sich freiwillig gemeldet hat, um 150 Flüchtlinge aufzunehmen. Wohlgemerkt mit einer SVP-Mehrheit in der Exekutive. Ein runder Tisch entstand, Vereine, Institutionen, Politik und Kirche übernahmen gemeinsam Verantwortung. Das blieb auch den Medien nicht verborgen. Winkler half von Anfang an mit und erlangte schnell eine wichtige Erkenntnis: «Diese Flüchtlinge nahmen nicht aus Vergnügen solche Strapazen auf sich, sondern kamen aus purer Not.» Das Widersprüchliche daran: Etliche landen wieder in der Not; konkret in Nothilfe-Zen­tren. «Diese Bezeichnung ist jedoch stark beschönigend. Hier herrscht ein Regime der Repression», berichtet er. Seine Miene verfinstert sich, der Pfarrer hat Bilder im Kopf, die er so in der Schweiz nie vermutet hätte. «Sie verelenden in der Trostlosigkeit einer Infrastruktur, die gar nicht als Langzeitunterkunft gedacht war», brüskiert er sich.

Unterschätzt in Köniz
Den direkten Kontakt mit den Flüchtlingen kennt auch der Könizer Ökonom Jürg Schneider. Seine Gemeinde kümmerte sich jedoch weniger um die 150 Ankömmlinge in Niederscherli. Mit seiner Frau und vielen Freiwilligen begann er, die Flüchtlinge zu unterstützen, mit Deutschunterricht zum Beispiel. Innerhalb kürzester Zeit wuchs die Zahl der Helfenden auf über 70 an, der Verein «offenes Scherli» entstand. «Ich war fast ein wenig eifersüchtig, als ich sah, wie Riggisberg sich engagierte», verrät er. Damals, im Jahr 2015, kannte er den emsigen Pfarrer aber noch nicht persönlich. Es war das, was nachher geschah, was die beiden Kämpfer unweigerlich zusammenbrachte. «Manche Asylentscheide waren für uns nicht nachvollziehbar, um nicht zu sagen rätselhaft. Wir merkten, wie viel Zufälligkeit hier vorhanden war», erinnert sich Schneider an die Anfänge. Da gibt es beispielsweise diese beiden Afghanen, welche die Strapazen der eingangs erwähnten Flucht erfahren haben. Einer erhält den Aufenthaltsstatus B, der andere nur F. «Wir fällten den Vorstandsbeschluss, dass wir auch Menschen mit negativem Asylentscheid unterstützen», erklärt er. Die Geschichte des nur vorläufig angenommenen Afghanen ist schnell erzählt: Dank der Hilfe von «offenes Scherli» ist er nun angehender Buchhalter in der Insel-Gruppe. Er finanzierte sich seine Ausbildung selbst und ist heute ein gut integrierter Steuerzahler.

Unwissenheit und Desinteresse
Bald war das angeeignete Wissen von Winkler und Schneider weit über ihre Gemeindegrenzen hinaus gefragt und gefordert. Angetrieben von den ersten Begegnungen vor ihrer Haustüre. «Sobald man diese Menschen sieht und kennenlernt, verändert das die Perspektive, ganz gleich welches Parteibuch man in den Händen hält», sagt Schneider und Winkler fügt an: «Es entstehen Beziehungen und Freundschaften, man verändert sich selbst.» Nur, in der Asylpolitik herrscht eher die Tendenz, schnell zu entscheiden, ganz nach dem Motto: aus den Augen, aus dem Sinn. «Unwissenheit und Desinteresse führten zu diesen fragwürdigen Entscheidungen und letztendlich zu Einrichtungen, die kaum zumutbar sind», fasst der Könizer zusammen. «Wenn ein Politiker wirklich hingehen und hinschauen würde, wenn er zulässt, diese Menschen kennen zu lernen und hinzuhören, wäre er entsetzt. Fast jeder, der Berührungspunkte mit dem System hat, merkt, dass der Mantel der Gerechtigkeit ziemlich viele Löcher hat», zeichnet Winkler ein wenig rühmliches Bild einer Schweiz, die sich selbst gerne humanitär gibt. Fortan bündelten die beiden ihre Kräfte mit anderen Gleichgesinnten im Kanton. Es entstand ein Netzwerk mit modernster Organisation: flexibel, motiviert, organisiert und bestens im Bild – die AG Nothilfe.

Das perfekte Gespann
Das schlagfertige Team setzt auf Experten in den verschiedenen Bereichen. Daniel Winkler zum Beispiel verfügt über eine gute Schreibe und beste Medienkontakte. Fortan belieferte er die Medien, damit die Gesellschaft hinschauen kann. Jürg Schneider hingegen erkannte, wo welche politischen Entscheide getroffen werden und vernetzte sich zusehends mit Politikern, die bereit waren, hinzuschauen. Dabei agieren sie nicht als verklärte Träumer, welche die halbe Welt herbringen wollen, sondern reflektiert, um einfach nur die Löcher im besagten Mantel zu flicken. Entsprechend betont Schneider: «Rückkehrhilfe beanspruchen und die Heimreise antreten, kann auch eine Lösung in gewissen Fällen sein.» Die beiden sind längst Spezialisten auf ihrem Gebiet und gemeinsam mit der AG Nothilfe in Dutzenden von Fällen mitverantwortlich, dass scheinbar hoffnungslose Fälle doch noch gelöst werden konnten. Nicht immer, aber immer wieder.

Vorkämpfer
Die jungen Menschen, die ihre Lehre abbrechen mussten aufgrund ihres Asylstatus, sind ein gutes Beispiel, wie das Duo funktioniert. Winkler gelangte mit den Geschichten der Betroffenen bis an die nationalen Medien, Schneider lobbyierte in der Politik und gelangte bis ins nationale Parlament. Eine Motion kam erst im Ständerat knapp zu Fall. Nur ein paar Stimmen fehlten und die Lehrlingsproblematik hätte gelöst werden können. Die Fälle aber erlangten grosses Aufsehen. Die beiden Vorkämpfer hingegen blieben im Hintergrund. Für einen kurzen Moment sei es deshalb gestattet, die Perspektive einmal zu wechseln: Da setzen sich ein Riggisberger und ein Könizer für Menschen ein, die in unserer Gesellschaft Randständige sind. In der Politik bilden sie kein spannendes Thema, um die Gunst der Wähler zu erlangen. In der Gesellschaft ist es nicht anders. Hinschauen tun die meisten höchstens nur, um herauszufinden, wie sie der Ansammlung junger Flüchtlinge aus dem Weg gehen können; aus Angst, dass hier eine Horde Krimineller oder Terroristen steht. Winkler und Schneider sind anders. Sie gehen hin und hören zu. Wo andere sich verschliessen, öffnen sie sich, wo andere blind sind, sehen sie hin. Die Interventionen aus Riggisberg und Köniz retten schlicht und ergreifend Menschenleben. Mitten in einem reichen Land tritt dieses Duo gegen eine Vielzahl an Missständen und ein mächtiges System mit vielen Wegschauern an. Vielleicht ist es Daniel Winkler und Jürg Schneider nicht möglich, alle Löcher im Mantel der Gerechtigkeit zu stopfen oder eine ganze Schicksalsgemeinschaft aus der Not zu führen. Was sie möchten, ist aber ohnehin etwas viel Stärkeres als das, was sie selbst zu leisten imstande sind: dass wir alle endlich hinschauen und auf diese Menschen zugehen. Eigentlich doch gar nicht so viel verlangt, finden Sie nicht auch?

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