Wir schreiben den 30. September 1989, als der deutsche Aussenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag 4’000 DDR-Republikflüchtlingen verkünden kann, dass ihre Ausreise nach Deutschland bewilligt wurde (wobei seine Worte zum Schluss im Jubel der Leute untergehen). Diesen historischen Moment wollte ich nachvollziehen. Offenbar als nicht ganz Einziger mit diesem Ansinnen. Vor dem Haupteingang zur Botschaft wird mein Vorhaben nämlich abrupt beendet, noch bevor es überhaupt begonnen hat, steht da auf einer Informationstafel doch zu lesen, dass es aufgrund der riesigen Nachfrage nicht möglich sei, die Botschaft zu besuchen. Mögliche Ausnahme: Gruppen nur nach Voranmeldung, aber auch da könne man für nichts garantieren. Für Interessierte gab es indes die Möglichkeit, die Botschaft von aussen zu sehen, samt dem berühmten Zaun rund um die Botschaft, über den die Menschen 1989 geklettert sind.
* * * *
100 Meter weiter oben der Eingang zur Abteilung für konsularische Fragen. Ich erkläre mich dort, allerdings vergeblich. Der freundliche Mitarbeitende rät mir, es dennoch via Haupteingang zu versuchen. Ich also retour zum grossen Tor. Ich läute, wiederhole mein Anliegen und schaffe es immerhin zum Por-
tier. Er hört mir genau zu, ruft die Pressechefin an. Nichts zu machen. Der Portier ermöglicht es mir jedoch, mit Maike Freytag-Pitrocha am Telefon zu sprechen, der besagten Medienverantwortlichen. Ich gebe «alles», wie man dem so schön sagt, mit dem Resultat, dass sie mir «im Sinne einer Ausnahme und eines reinen Entgegenkommens» eine Kollegin aus ihrer Abteilung für «höchstens eine Viertelstunde» als Begleiterin zur Seite stellen kann zum Besuch des Gartens und der Innenräume. Was für eine Überraschung, was für eine spontane Reaktion, fernab von jedem Apparatschik. Super!
* * * *
Drei Minuten später stehe ich mit Hana Hruzova im Garten der Botschaft, wenig später auf dem besagten Balkon, wo eine Gedenktafel mit den Worten von Hans-Dietrich Genscher an jenen 30. September 1989 erinnert. Ich bin überwältigt. Kommt hinzu, dass Frau Hruzova seinerzeit bereits hier gearbeitet hat und einiges von dieser verrückten Zeit zu erzählen weiss. Ich bedanke mich überschwänglichst bei ihr, verrate ihr auch, dass ich selber Pressesprecher war und es nicht so sehr goutiert habe, wenn es plötzlich hiess, jemand stehe am Empfang und verlange nach mir. «Herrgott! Kann der sich nicht anständig anmelden?» – «Genau das habe ich meiner Chefin vorhin auch gesagt, mit Ihren Worten!» Lachen auf beiden Seiten.
* * * *
Am Nachmittag besuche ich «U Fleku», das berühmteste Bierlokal Prags, 1499 erstmals erwähnt. In meinem Roman möchte ich dort geheime Treffen von Oppositionellen stattfinden lassen. Ein Mitarbeiter führt mich spontan durch die vielen verwinkelten Keller der Brauerei, wo man sich sehr gut solche Zusammenkünfte vorstellen kann. Er geht aber noch einen Schritt weiter: «Morgen früh ist unser Braumeister da, er kann Ihnen bestimmt einiges zur Geschichte des ‹U Fleku› erzählen.» Ich also am nächsten Morgen wieder an die Kremencova 11, zu Ivan Chramosil. Nächste Überraschung: Der Braumeister hat einen Arbeitskollegen mitgenommen, einen Schweizer, Stanislaw Derungs. Und diese beiden Herren haben wirklich einiges zu erzählen, sogar meine eigene Fantasie wird von Tatsachen übertroffen, denn im «U Fleku» haben tatsächlich (!) solche Treffen von Regierungsgegnern stattgefunden, sogar eine Flugzeugentführung wurde hier geplant und dann erfolgreich durchgeführt. Ich mache bloss noch grosse Augen.
* * * *
Um während den 96 Prag-Stunden nichts dem Zufall zu überlassen, habe ich mir für einen ganzen Tag eine erfahrene Reiseführerin «angeschnallt», Geschichtsprofessorin an der Uni Prag. Sie zeigt mir die Originalschauplätze von 1968 und 1989, weiss um viele Details, auch aus eigener Erfahrung. Höhepunkt dieser Begegnung ist eine zweistündige Zusammenkunft mit ihrem Vater (86), einem ehemaligen Oppositionellen, der 1955 wegen angeblichen Hochverrats zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Es ist erschütternd, was er erzählt. Ich schreibe alles mit, schreibe, schreibe, schreibe… Zum Schluss schenkt er mir die deutsche Ausgabe eines Buches; eines, das er selber geschrieben hat, mit einem Vorwort von Vaclav Havel, auch einem ehemaligen Dissidenten und späteren Präsidenten der Tschechei. Sein Buch handelt von den geschichtlich schwierigen Beziehungen der Tschechen zu den Deutschen. Fast als ob er geahnt hätte, dass mein Roman in Prag und in Berlin spielen wird, über mehrere Generationen hinweg. Unglaublich.
Thomas Bornhauser