Machtgierige Täter – schweigende Opfer

Machtgierige Täter – schweigende Opfer

Man stelle sich eine bunt gemischte Menschengruppe an einem kleinen Konzert vor. Vielleicht sind 20 Frauen darunter. Statistisch gesehen haben mindestens vier davon sexualisierte Gewalt erfahren. Und in Ihrer Quartierstrasse mitten in unserer Region? Genau dasselbe. Hinter jeder fünften Wohnungstür erleidet eine Frau unfreiwilligen Sex.

Der privateste aller Rückzugsorte, das eigene Daheim, ist sogar der häufigste Tatort. Nicht etwa die dunkle Gasse in der Grossstadt. 22% aller Schweizer Frauen haben ungewollte sexuelle Handlungen erlebt, 12% Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen. Im Kanton Bern kamen im vergangenen Jahr aber gerade mal 89 Fälle zur Anzeige. Nur ein Bruchteil der Vorfälle wird gemeldet. «Die Opfer brauchen mehr Schutz, es gibt Gesetzeslücken und präventiv müssen wir ebenfalls noch viel tun», fasst Barbara Ruf, Leiterin der «Fachstelle für die Gleichstellung von Frauen und Männern» zusammen.

Berner Modell
Die Vorstellung, dass in unserer Region solche Vorfälle höchstens Einzelfälle wären, die blättert beim Blick auf die polizeilichen Meldungen ab wie eine alte Tapete, die sich vom Putz löst. Barbara Schärer ist Fahnderin bei der Kantonspolizei Bern. Sie kennt viele Frauen unserer Region, die den Mut haben, die Polizei einzuschalten. «Opfer brauchen erst einmal Ruhe und jemanden, der ihnen zuhört, ohne etwas davon in Frage zu stellen. Wir müssen auf diese Opfer eingehen können», erklärt sie. Hierfür gibt es bei der Polizei ein Frauenpiquett, das auf sexualisierte Gewalt spezialisiert ist. Das ist aber nicht das Einzige, was im Kanton den Betroffenen hilft. Das sogenannte «Berner Modell» in der Strafverfolgung trägt zudem dem Umstand Rechnung, dass die Frauen bei einem solchen Vorfall meist einen Kontrollverlust erleben und in eine Schockstarre fallen. Der Mechanismus sich zu wehren ist dann ausser Kraft gesetzt. Hier greift dieses Modell, indem die betroffene Person gar nicht zur Polizei gehen muss, damit die Strafverfolgung eingeleitet wird. Gelangt der Vorfall zur Anzeige, werden alle Fakten ausgewertet. Beim unpolizeilichen Weg geschieht dies nicht, kann aber bis 15 Jahre nach der Tat noch nachgeholt werden, sobald das Opfer Meldung erstattet. «Die Spurensicherung sollte aber so oder so gemacht werden», rät die Polizistin, damit ein Vorfall genügend dokumentiert ist. Kein einfacher Gang für die Betroffenen. «Sie müssen zuerst sich selbst sagen können, dass sie nicht schuld sind. Sie kämpfen mit Schamgefühlen. Da braucht es Gespräche mit Vertrauenspersonen, damit anschliessend der Weg zur Polizei möglich wird», führt sie aus. Der weitere Verlauf braucht ebenfalls Energie. «Spurensicherung, Einvernahme, Gericht, das Ganze kommt immer wieder hoch», berichtet sie.

Opferhilfegesetz
Eine Frau, die sich in der Gefühlswelt der Opfer bestens auskennt, ist Agota Lavoyer von der Beratungsstelle für Opferhilfe. «Sexualisierte Gewalt ist ein traumatisches Ereignis. Oft erleben sie sogenannte Flashbacks. Wenn sie etwas an die Tat erinnert, löst das Ängste und Panikattacken aus. Aus dieser inneren Unruhe heraus ist es schwierig, je wieder zu vertrauen», berichtet sie aus ihrer Arbeit. Oft handelt es sich um Frauen, die aus Scham nie eine Meldung gemacht haben. Oft haben sie sich jemandem anvertraut und schlechte Reaktionen erhalten, gerade wenn es sich um beidseits bekannte Personen im eigenen Umfeld handelt. Lavoyer erinnert an das Opferhilfegesetz, das noch zu wenig bekannt sei und erklärt: «Hier spielt es keine Rolle, ob der Vorfall strafrechtlich verfolgt wird oder nicht, auch der Zeitpunkt spielt keine Rolle. Wir sind nicht die Polizei, die Betroffenen müssen sich nicht beweisen. Wir sorgen, wo nötig, für finanzielle Hilfe etwa für Anwaltskosten oder Therapeuten. Die Opferhilfe kommt für Kosten auf, die Krankenkasse oder Versicherungen nicht bezahlen.» Gerade weil aber nach wie vor nur ein kleiner Bruchteil der Opfer diese Scham überwindet, keimt die Frage auf, ob das reicht?

Revision nötig
Geht es nach Lavoyer ist klar: Das Sexualstrafrecht muss überarbeitet werden. Ein Beispiel verdeutlicht dies: Eine Barkeeperin in einem Lokal in unserem Verteilgebiet ist unlängst vergewaltigt worden. Der Täter erhält für den Prozess einen Rechtsvertreter zur Verfügung gestellt, während die besagte Frau keine Hilfe erhält, sofern sie das nicht eigenständig organisiert. Sie erscheint mit einer Vertrauensperson, die aber rechtlich nicht bewandert ist, und schon klafft eine Lücke im Verlauf des Prozesses. Die grüne Parlamentarierin Regula Rytz ist eine Politikerin, die sich der Sache angenommen hat und gemeinsam mit weiteren Frauen der nationalen Politik für eine Revision kämpft. «Das Gesetz ist wichtig für einen Paradigmenwechsel, sonst können wir nicht den nächsten Schritt machen», sagt sie. Gemeint ist, dass sexualisierte Gewalt in erster Linie ein gesellschaftliches Problem ist. Luise Treu ist Sexualpädagogin bei der Berner Gesundheit. Sie erklärt, was sich in der Gesellschaft vor allen Dingen entwickeln muss: «Es geht um eine Atmosphäre der Einvernehmlichkeit. Es gibt nur Ja von allen Beteiligten sowie die Möglichkeit, jederzeit widerrufen zu können.» Die Präventionsarbeit und Sexualkunde in den Schulen muss dahin gehen, dass diese Ausgangslage zur gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit wird.
Männer und Macht
Weshalb ist es denn nicht schon lange so oder anders gesagt, weshalb nehmen sich Männer diese Freiheit heraus, eine Frau zu erniedrigen? Lavoyer sieht den Ursprung in den historisch gewachsenen Ungleichheiten der Geschlechter. «Der Mann ging davon aus, dass er Ansprüche stellen kann, um seine Bedürfnisse zu befriedigen», verdeutlicht sie. Eine Erklärung, weshalb 80% der Übergriffe im privaten Umfeld passieren. Wie das aus Sicht der Täter klingt, das weiss Martin Bachmann als klinischer Sexologe und Betreuer derselben. «Sie berichten mir von einem Gefühl, sich mächtig zu fühlen. Es liegt am Stereotyp, man sei dann besonders männlich», verrät er aus den Erzählungen seiner Patienten. Der Rausch bleibt dennoch oft aus. «Wenn man den Lack dieser Stereotypen wegkratzt, kommt meist ein Mensch zum Vorschein, der noch gar nicht weiss, wer er wirklich ist.» Aus diesen Erfahrungen heraus kommt er zum selben Schluss wie Lavoyer, Treu, Rytz und Schärer, indem er sagt: «Es braucht eine klare Ansage, dass solche Stereotypen nicht gehen, auch von der ganzen Gesellschaft». Zum einen bei den Männern, die sich dieser Form von Machtvorstellung entledigen müssen, zum anderen bei den Frauen, die ihr kritisches Hinterfragen, ob sie nicht doch schuld an der Situation sind, beiseitelegen können. Begleitet von einem Gesetz, dass die Täter nicht mehr privilegiert.

Das bedeutet, die Gesellschaft ist gefordert, mit Zivilcourage einzuschreiten, bei den Nachbarn hinzuschauen, Betroffene anzusprechen, Hand zu bieten oder kurz und knapp: nicht mehr zu schweigen. Denn rein statistisch ist es unmöglich, dass man nicht irgend jemanden in seinem Umfeld hat, der zu einem Opfer von einem Übergriff geworden ist. Nur weiss vermutlich niemand davon. Sexualisierte Gewalt geht alle etwas an. Das wird spätestens dann klar, wenn man die Zeilen einer Frau liest, die versucht hat, ihren Gefühlszustand zu beschreiben: «Was ist schon ein ungewollter Fick gegen das Leben? Ich wollte (über)leben! Also hielt ich still. Diese Stille hat sich danach nie mehr ganz verflüchtigt in mir. Hartnäckigen Besuch bekam sie jedoch regelmässig von Frau Scham und dem dunklen Herrn Ekel. Abwaschen liess sich mit Wasser und Seife einiges. Innen kratze ich mich blutig wund. Die Narben schmerzen mich heute immer noch. Es dauerte Jahre, bis ich mir selbst eingestehen und es laut ohne Zittern aussprechen konnte: Das war eine Vergewaltigung. An eine Anzeige habe ich nie gedacht. Es war ja meine Entscheidung. Damals da, in dieser Wohnung. Irgendwie. Ich wollte leben.»

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