Die Tonhalle in St. Gallen ist am Abend des 19. März gefüllt, die Erwartungen an das Einzelfinale sind gross. Nach den abwechslungsreichen Halbfinalrunden stehen heute die erfolgreichsten Poetinnen und Poeten auf der Bühne, wie üblich vom Publikum gewählt. Die Schweizer Meisterschaft ist für die Poetry-Slam-Szene der Saisonhöhepunkt, der Meistertitel ein Ritterschlag. In den letzten beiden Jahren wurde diese Ehre Christoph Simon aus Bern zuteil, der seine Siegesserie bestimmt gerne mit einem weiteren Titel geschmückt hätte. Doch viele talentierte junge Dichter und Autorinnen stehen bereit, um diesen Hattrick zu verhindern und nebst Ruhm und Ehre auch die traditionelle Flasche Whisky mit nach Hause zu nehmen. Trotz Wettkampf ist die Stimmung aber familiär, die Slam-Poeten gönnen einander die guten Wertungen und freuen sich gemeinsam über gelungene Texte.
Den Dichterwettstreit für sich entschieden hat dieses Jahr Remo Zumstein aus Schliern. «Letztes Jahr war ich so nah dran, dieses Mal wollte ich es schaffen, erzählt der frischgebackene Schweizer Meister, der 2015 ganz knapp hinter Simon Zweiter wurde. Entsprechend viel Zeit und Energie steckte der Dichter in die Vorbereitung. Der Plan ging auf. Wer die Texte Zumsteins kennt, dürfte in St. Gallen überrascht worden sein. Keine reinen Wortspieltexte mit harmlosem Inhalt, keine sonoren sechs Wohlfühlminuten in Berner Gemütlichkeit. Remo Zumsteins Text im Stechen bewegt, beschwört eine Situation herauf, die jeder aus eigener Erfahrung kennt – und trifft damit den richtigen Nerv beim Publikum. Er spricht aus Sicht eines Familienvaters, der seine Offenheit gegenüber Neuem betont und dennoch an Altem festhält. Ein gesetzter Mittvierziger, der sich in seinem Leben zwar über vieles ärgert, es sich aber nicht eingesteht, sich trotz allem zufrieden gibt. Bitterkeit schwingt mit, die so gar nicht zum 27-Jährigen zu passen scheint. «Viele sagen, sie seien offen, doch die gewohnten Muster zu verlassen, fällt schwer», stellt Zumstein nachdenklich fest. Das Thema sei symbolisch, auch für seinen persönlichen Wandel als Autor. In den letzten Monaten hat sich der Slam-Poet selbst an der Nase genommen und sich immer wieder aus der eigenen Komfortzone gewagt. «Ich möchte mehr Relevanz in meine Texte bringen. Ich habe viel ausprobiert, ernstere Texte geschrieben und mich gezwungen, diese auch an Slams vorzutragen», beschreibt er seine jüngste Entwicklung und ergänzt: «Sei dir bewusst, dass du immer Angst haben wirst vor Unbekanntem. Aber ich versuche, mir die Angst zu nehmen, indem ich sie lächerlich mache.» Auch will er weiterhin Neues wagen, in Shows mitwirken, in denen Spontaneität gefragt ist wie beispielsweise an den Icon-Poet-Abenden im «Progr» oder beim Rauschdichten im «Musigbistrot». «Es ist sehr befreiend», stellt der Autor fest. Sein Mut zahlt sich aus, der Sieg an der Schweizer Meisterschaft hat prägende Auswirkungen auf das Leben. Medien stehen Schlange, zusätzliche Anfragen für Workshops und Gastauftritte flattern ins Haus. Der Schlierner ist ein gefragter Mann: Tagsüber Workshops mit Schulklassen, am Abend Auftritte auf Slam-Bühnen und Anlässe in der ganzen Schweiz, schreiben, viel herumreisen – ein kleines bisschen Rockstardasein in der Kleinkunstszene. Den Wortakrobaten freut es: «Poetry-Slam ist ausserhalb der Familie Thema Nummer 1 in meinem Leben. Es ist schön, dass es so vielseitig geworden ist!» Dass er seine Leidenschaft zum Beruf machen kann, hätte er sich nie träumen lassen. Zum Poetry-Slam kam er durch eine Projektwoche am Gymnasium Burgdorf, erste Wahl war das Angebot aber nicht. «Ich wollte viel lieber nach Paris», grinst Zumstein. Nach Abschluss der Woche begleitete er einen Freund an einen Poetry-Slam und meldete sich kurzfristig ebenfalls als Teilnehmer an – und gewann. Er hatte Blut geleckt. Die Verbindung von kabarettis-
tischen Elementen mit literarisch schön geschliffener Sprache fasziniert Remo Zumstein bis heute. Und mit dem Meistertitel im Gepäck ist er seinem Traum um einen grossen Schritt näher: einem Leben zwischen Auftreten und Schreiben, einem Leben für den Poetry-Slam.
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