Nura blinzelt

Nura blinzelt

Unsere Weihnachtsgeschichte: Ein Landwirt und ein Stromausfall erschweren das Melken. Dass sein Ätti ihm helfen will, wird zuerst nicht gern gesehen.

Dieser Morgen war zum Haareraufen. Es war ohnehin nicht Davids Jahreszeit. Aufstehen, wenn es noch so dunkel ist, dass selbst der Kartoffelkeller mehr Freundlichkeit ausstrahlt als das triste Grau von draussen. Und dieser Morgen war besonders dunkel. Nicht nur draussen, sondern auch drinnen. Kein Strom. Kühe melken ohne Strom und schon bald sollte David seine Milch dem Käser bringen; pünktlich, frisch und einwandfrei. Kurz blickte David rüber auf die andere Hügelseite. Offenbar hatte der Stromkonzern ein grösseres Problem, der ganze Hang blieb dunkel. Auch Hansuelis Lehn und Franziskas Gschwendli. Sie kamen – wie David – wohl nicht darum herum, mit den Taschenlampen zu leuchten und von Hand zu melken. David war in Gedanken immer noch mit der Schuldsuche beschäftigt und fragte sich gerade, weshalb ein Stromkonzern solche Unsummen für Skirennsportler ausgibt, aber hier im Naturpark immer noch Leitungen bedient, die schon Napoleon bei seiner Durchreise für veraltet erklärt hätte. David verstand es nicht; er entkam diesen immer böser werdenden Gedanken erst wieder, als Nura mit einem lauten. «Muuh» auf das drückende Euter aufmerksam machte. Schnell Eimer und Melkstuhl suchen und loslegen. Nur, wo war der Melkstuhl hingekommen? In seinem kopflosen Hasten verpasste David den tiefhängenden Türrahmen beim Stallausgang deutlich. Wo er sonst blind zum rechten Zeitpunkt den Kopf ein wenig einzog und ohne Tempoverlust unten durchkam, bot der Balken heute erbitterten Widerstand. «Der war auch schon für Napoleon zu tief und das war ein kleiner Franzose!» David war wütend, griff sich an die Stirn und wollte gerade eine fein sortierte Anzahl gesammelter Fluchworte der letzten drei Jahrhunderte von sich schmettern, da stieg ihm ein bekannter Duft in die Nase: Pfeifentabak. Grossvater Gusti, dachte er. Aber im Stallgang war niemand. Und dennoch war der Geschmack dieser alten Tabaksorte einzigartig; Grossvater Gusti musste da sein. «Grossätti», rief David durch den Stall. «Pssst», flüsterte es unweit von ihm. Und da erst erblickte David seinen Grossvater. Längst hatte dieser den Melkstuhl umgeschnallt und sass rechts von Nura, den Kessel bereit und das Euter mit ein paar geübten Bewegungen geschmeidig machend, um dann mit einem süffisanten Lächeln im Gesicht die ersten Spritzer Milch in den Eimer zu katapultieren. «Ärger und laute Töne geben keine gute Milch, David; dann werden die Kühe unruhig und die Milch säuerlich», sprach der alte Mann mit dem schneeweissen Haar und den markanten, immer grösser werdenden Ohren. «So ein Quatsch, Grossätti», blickte David immer noch ungläubig nach unten. Doch Grossvater Gusti zog schweigend an seiner Pfeife, entsandte eine kleine Wolke Richtung Stalldecke und schickte sich mit weichen Fingern daran, Nura fertig zu melken. «In der Ruhe liegt die Kraft, mein Kleiner», flüsterte Grossätti. Wie David diesen Satz doch satt hatte. Beim Beerenpflücken, beim Traktorflicken, beim Zäunen, immer «in der Ruhe liegt die Kraft», äffte David den Grossvater nach. Dabei hatte der alte Mann doch keine Ahnung, wie alles heute mit dem ganzen Papierkram, den Subventionen, den Auflagen im Stall, der Tierdatenbank komplex geworden ist. «Die alten Zeiten sind vorbei», sagte David plötzlich laut und erschrak, denn er glaubte, diesen Satz nur gedacht zu haben. «Ja leider», lächelte Grossätt noch immer sanft und leise. Wieder so etwas Unliebsames für David. Dieses «Früher-war-alles-besser- Geschwätz». David spürte aber, wie die Wut in seinem Bauch wich und einem neuen Gefühl Platz machte: Schnaps. Jetzt würde ihm ein Schnaps guttun. Als hätte Grossvater denselben siebten Sinn wie die Stallkatzen, die immer genau wussten, wann fertig gemolken war und aus dem heiteren Nichts da standen, meinte er: «Geh und gönn dir einen Schnaps, ich bin hier bald fertig, so dass du pünktlich in die Käserei fahren kannst.» Eben war David noch aufgebracht über Grossätts Geschwätz, nun staunte er einmal mehr, wie der alte Mann zwar einen schweren Gang hatte, aber eine Leichtigkeit in seinen Gedanken, die ihn verblüffte. Dennoch, David lief Richtung Haus und wollte nun diesen Schnaps zur Beruhigung zu sich nehmen. Diesmal erreichte er die noch immer dunkle Aussenwelt ohne Widerstand des Türrahmens und musste ein wenig schmunzeln; er war wieder im Rhythmus.

Draussen beschloss die Natur nun, einen kräftigen Wintersturm über die Hügellandschaft des Naturparks zu jagen. Der treue Entlebucher «Bänz» war tief in seine Hundehütte gekrochen und die Linde vor dem Stall gab dem Wind kampflos ihre letzten Blätter her. David wusste nicht genau weshalb, aber er blieb einen Moment stehen. All diese kleinen Dinge hatte er wahrgenommen. Der Wind setzte zu einer Böe an, die ihm fast die Mütze vom Haupt riss. Mit einer Hand hielt er den blauen Stofffetzen auf seinem Kopf, die andere Hand streckte er langsam in den Wind. Er spürte, wie die Böe langsam wieder nachliess und plötzlich sanft seine Hand streichelte. David war ruhig geworden; sehr ruhig sogar. Der Wind hatte seine Wut weggeblasen. Weit weg. Bis zu Napoleons Grab, schmunzelte David in seinen Gedanken. Eigentlich hatte er auch das Bedürfnis nach Schnaps weggepustet. David wendete mit so viel Bodenständigkeit, dass sich der Absatz des Gummistiefels ein wenig ins Kiesbett auf dem Hofplatz eindrehte. Er musste zurück in den Stall. Er vermutete Grossvater bei der Kuh, wo dann eine kleine Dampfwolke ab und an emporsteigt. Doch da war keine Tabakwolke mehr zu sehen. «Fertig», sagte Grossvater mit einem Lächeln, das jeweils für einen kurzen Moment seine beachtlichen Ohren in Schwingung brachte. «Was, so schnell?», fragte David ungläubig nach. Grossvater Gusti leerte den letzten Kessel ins Kessi und meinte: «Du warst eine ganze Weile weg, David.» «Das habe ich gar nicht gemerkt», blickte ihn David fragend an. «Naja, dem Christkind bist du da draussen wohl nicht begegnet, und Napoleon auch nicht», lachte Grossvater Gusti nun herzhaft. Wie wusste der alte Mann von seinen Gedankenspielen? David war sich nun nicht mehr so sicher, was mit ihm passiert war. «Ich habe aber keinen Schnaps getrunken», war das einzige, was er halbwegs Schlaues zu entgegnen wusste. «Ich weiss», sagte Grossvater Gusti. Ein schrilles Geräusch unterbrach den Moment unsanft. «Willst du nicht ran gehen?», fragte Grossätti nach. Dann erst merkte David, dass sein Handy klingelte. «Zurbuchen», meldete sich dieser, ohne auf den Bildschirm zu blicken. Als David telefonierte, drehte Grossvater den Kessel um und setzte sich drauf. «Du kannst die Milch nicht nicht liefern, weil die Käserei auch keinen Strom hat», fasste Grossvater das Gespräch zusammen, als hätte er es selber geführt. «Grossätti, das ist mir fast unheimlich, wie du die Gedanken liest», meinte David mit Augen, die nun so gross waren wie die von Nura; und Nura hatte sehr grosse Augen. «Und vorhin, draussen, war es dir auch fast unheimlich?», wollte Grossätti wissen. David setzte sich nun neben seinen Grossvater auf den Boden. «Ich weiss nicht; es war plötzlich so, als bliebe die Zeit stehen. Es war so, als ob ich alles fühlen und sehen konnte», versuchte David Worte zu finden, wo es keine gab. Grossvater Gustav stopfte sich neuen Tabak in die Pfeife und wartete eine ganze Weile, ehe er antwortete: «David, du warst erstmals seit Langem wieder mit der Natur, den Tieren und vor allem mit dir allein und nicht in deine Arbeit vertieft. Du warst Teil dieses kleinen Stückleins Natur, das wir unser Heimetli nennen. Und wenn man das so lange nicht mehr gemacht hat und nur noch die Arbeit sieht, dann wird man taub und blind», sprach der weisshaarige Mann. «Und wütend», ergänzte David mit demselben Lächeln, wie es sein Grossvater auch unter den Ohren trug. Als beide diesen Glücksmoment genossen, drehte Nura ihren Kopf um und blinzelte mit einem Auge den beiden zu. «Hast du das gesehen Grossätti?» «Und was wollte sie uns damit wohl sagen, David?», fragte Grossvater Gusti. David schritt langsam zu Nura und streichelte sanft ihre Flanke, blickte seinen Grossvater an und sagte: «In der Ruhe liegt die Kraft.»

Teilen Sie diesen Bereich

Beitrag:
«Nura blinzelt»

Die meistgelesenen Artikel

Kontakt

Datenupload

Der einfachste Weg uns Ihre Daten zu senden!

Werbeberatung

Schritt 1 von 2