«Wo ist dieser blöde Schal», flucht Emily. Es ist kurz nach halb sieben, in zwei Minuten fährt der Bus und die 200 Meter zur Bushaltestelle müsste sie wieder so zurücklegen, dass ihr der Schweizer Leichtathletikverband glatt ein Training in Magglingen offerieren würde. Sofern sie endlich diesen Schal findet, sonst würde sie den Bus verpassen und die Geduld ihres Chefs auf eine harte Probe stellen. «Hast du die moderne Kunst für dich entdeckt», fragt Paul plötzlich und zeigt auf ihre weisse Bluse, die mit einigen Kaffetropfen garniert ist. «Sehr witzig Paul», erwidert Emily und versucht gleichzeitig die Bluse auszuziehen, in das Schlafzimmer zu laufen, eine neue anzuziehen und wieder rauszulaufen. Der Türrahmen bietet ihr erbitterten Widerstand. «Mist.» «Du wiederholst dich», meint ihr Freund. «Aus dem Weg», knurrt sie und sprintet aus dem Haus wie Kambundji aus den Startpflöcken beim 100m-Lauf. Etwas Gutes hat dieser morgendliche Sprint: Die Kälte hat keine Zeit, durch die Jacke der jungen Bankangestellten zu dringen, ehe der Bus schon angerollt kommt. Die Strecke von Niedermuhlern nach Köniz mit den immer gleichen Menschen an den immer gleichen Sitzen nutzt sie, um sich mental auf den Tag vorzubereiten. Heute ist das besonders wichtig, nicht wegen der Bank, sondern dem, was nachher passiert. Paul und sie würden erstmals den Weihnachtsabend bei ihrer Familie feiern. Wobei feiern eigentlich das falsche Wort ist. Vielmehr müsste es heissen «überleben», denkt sie. Die Familie Messerli ist bodenständig, wobei die Betonung auf ständig liegt. Ständig gibt es zu Weihnachten Fondue Chinoise, ständig schenken ihr die Eltern diesen Einkaufsgutschein für die Migros, ständig dekoriert ihre Mutter das ganze Haus mit einer Vielzahl an Engeln, die locker den ganzen Petersdom ausschmücken könnten. Der Anlass liegt ihr auf dem Magen, ihr Vater würde kaum verstehen, was Paul von Beruf macht. «Requirement Engineer», aus Sicht ihres Vaters irgendetwas, was früher nicht nötig gewesen wäre und man heute macht, ohne dass es von Nöten wäre. Aber sie ertappt sich auch ein wenig beim Schmunzeln, denn zumindest verspricht dieses Aufeinandertreffen, die ständige Wiederholung zu durchbrechen. «Köniz, Zentrum». Die Lautsprecherdurchsage im Bus weckt Emily aus der Gedankenwelt. Hastig steht die zierliche Frau auf, um den Bus zu verlassen. Es ist keinen Deut wärmer hier, also tut sie das, was sie morgens immer tut: sie rennt. Die Frage lautet, wann ist sie eigentlich zuletzt gemütlich zur Busstation gelaufen? Sie nimmt sich vor, dies am Abend zu ändern.
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Die nasse Strasse und die morgendliche Dunkelheit sind für Erich kein Problem. Nur die vielen Lichter, die dann noch blenden, die mag er nicht. Wieso werden die Autolichter immer heller, denkt sich der routinierte Fahrer und kneifft sich einen kurzen Moment lang die Augen zu, um dem entgegenkommenden Blender entgegenzuwirken. Als er die Augen wieder öffnet, springt sie geradewegs über die Strasse, wie ein Reh. Erich tritt mit voller Kraft in die Eisen des alten Volvos. Aber es reicht nicht ganz. Ein kleiner Rempler, dann stoppt das Auto. Erich springt aus dem Auto, ohne die Tür hinter sich zu schliessen. Unmittelbar vor der Kühlerhaube liegt sie da, regungslos. «Mein Gott, geht es Ihnen gut?», ruft er, um sich gleich wieder zu ärgern. Natürlich geht es ihr nicht gut, er hat sie angefahren und sie liegt vor dem Kühlergrill des Volvos. Emily öffnet die Augen und sieht als erstes eine grosse Nase. Erich hat einen mächtigen Zinken im Gesicht und aus der Froschperspektive wirkt dieser keineswegs kleiner. «Sie haben noch ihre Finken an», sagt sie kurz und beginnt sich aufzurappeln. Verdutzt blickt Erich auf seine Füsse und stellt fest: «Ja, das wäre im Prinzip möglich.» Der Morgen ist nicht seine liebste Uhrzeit und die Schlarpen an seinen Füssen legen Zeugnis davon ab, dass er ein Morgenmuffel ist. Emily steht bereits wieder auf ihren Beinen und streicht sich den Strassenschmutz von der Kleidung. «Alles gut mit Ihnen, soll ich Sie zu einem Arzt fahren?», fragt Erich noch immer im Schock. «Nein, alles gut, ich bin nur erschrocken», erwidert Emily und will gerade loslaufen. «Einen Moment, junge Frau», sagt Erich, und geht noch einmal zum Auto zurück. Als er zurückkehrt, hat er ein kleines Bild in der Hand. Das A4-grosse Gemälde zeigt eine Familie, die an einem leeren Holztisch sitzt und sich schweigend anstarrt, so als hätte man sich nichts mehr zu sagen. «Ich bin Maler, nehmen Sie eines meiner Bilder als Entschuldigung an», sagte Erich mit zittriger Stimme. Emily bedankt sich artig, nimmt das Bild und erhöht die Laufgeschwindigkeit Richtung Bank.
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«Rot oder dunkelblau?», will Paul wissen, als sie von der Arbeit heimkehrt. Er hält ihr zwei Hemden unter die Augen und Emily zeigt wortlos auf das Dunkelblaue. Während sich Paul für den Weihnachtsabend schick macht, starrt sie noch einmal auf das Gemälde. «Was ist das», fragt ihr Freund, inzwischen adrett zurechtgemacht. «Das habe ich heute von einem Autofahrer bekommen, der mich auf der Strasse leicht angefahren hat. Aber bevor du hyperventilierst: keine Sorge, mir geht es gut», wirft sie hinterher, um den besorgten Partner nicht noch nervöser zu machen. «Die sehen aber nicht sonderlich glücklich aus», kommentiert er die Szenerie. «Was ist besser? Die wiederkehrende Ständigkeit bei deinen Eltern oder wenn wir uns am Tisch so anstarren müssten?», will Paul wissen. Emily antwortet so schnell wie sie laufen kann und ohne zu überlegen: «Lass uns gehen, ich freue mich erstmals so richtig auf dieses Weihnachtsessen.»