Tausende statt Duzende

Tausende statt Duzende

Mancherorts gingen die Bürgerinnen und Bürger in den vergangenen Monaten wegen den Corona-Schutzmassnahmen nicht an die Gemeindeversammlung, sondern an die Urne. Hat die schriftliche Abstimmung für andere Resultate gesorgt? 3 Gemeindepräsidenten nehmen Stellung.

Stell dir vor es ist Abstimmungstag und keiner geht hin. Diese betrübliche Situation kennen viele Gemeinden, wenn es um ihre Versammlungen geht. Corona sei Dank darf das Volk nun vielerorts an der Urne abstimmen. Statt einer kleinen Menschenansammlung in einem Saal, stimmten nun tausende für die jeweiligen kommunalen Vorlagen ab.

Höhere Beteiligung
«Es nehmen mehr Leute teil, weil eine schriftliche Stimmabgabe zeitlich unabhängiger ist als eine Gemeindeversammlung an einem fixen Abend», erklärt Michael Bürki, Gemeindepräsident von Riggisberg. Daraus resultiert eine ganz neue Dynamik. «Es ist in der Tat so, dass andere Resultate entstehen. An der Urnenabstimmung in Schwarzenburg nahmen 1753 Personen teil; an einer Gemeindeversammlung nehmen durchschnittlich 200-300 Personen teil. Da der entsprechende Gemeinderat das Geschäft nicht mündlich vorstellen kann, stimmen die Stimmbürger nach eigenem Gutdünken ab», sagt etwa Martin Haller, der bis Ende 2020 noch Gemeindepräsident war.
Ganz anders präsentiert sich die Lage auf der anderen Seite der Sense. Im Kanton Freiburg sind bis dato keine Urnenabstimmungen in Gemeinden mit Gemeindeversammlung möglich. Dennoch erkennt auch Gemeindeammann Andreas Freiburghaus von Wünnewil-Flamatt die spezielle Situation an, wenn er sagt: «Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die Teilnahme an Gemeindeversammlungen für einen kleinen Teil der Aktivbürger wichtig ist. Wir hatten vor der Einführung des Generalrats jeweils 80 bis 150 Personen auf zirka 3500 Stimmberechtigte.» Seither gibt es ein Parlament, in Wünnewil-Flamatt Generalrat genannt. Wahlen kennt die Bevölkerung aber im Zusammenhang mit dem Gemeinderat. Zuletzt resultierte dabei eine Wahlbeteiligung von 45%, entsprechend meint Freiburghaus: «Ich denke, dass diese Zahl auch bei Gemeindeabstimmungen erreicht werden könnte.» Die drei Gemeindepräsidenten sind sich einig: Urnenabstimmungen sorgen für eine höhere Stimmbeteiligung.

Anderer Ausgang
In Schwarzenburg musste das Volk an der Urne mitunter heikle Geschäfte absegnen, speziell zwei Nachkreditgeschäfte, die Erklärungsbedarf gehabt hätten und prompt abgelehnt wurden. «Dies war fast zu erwarten; gerade, weil es keine Gemeindeversammlung gab, wo man Hintergrundinformationen hätte geben können. Dennoch hat mich der Ausgang überrascht», fasst Haller zusammen. Bürki pflichtet diesem Nachteil bei in dem er ergänzt: «Ich finde es schade, dass eine allfällige Diskussion bei einer Urnenwahl nicht direkt stattfindet und im Vorfeld der Abstimmung je nach Thema ein zusätzlicher Informationsabend organisiert werden müsste, wenn man den könnte.» Aber im selben Schwarzenburg war die Urnenabstimmung für wiederum andere Traktanden eine Chance, ist sich Haller sehr wohl bewusst: «Für die hohe Zustimmung beim Landkauf für das Eisbahnprojekt Schwarzwasser war die Urnenabstimmung von Vorteil.» Schriftliche Abstimmungen sind also eine viel kleinere Hürde gegenüber einer Teilnahme an einer Versammlung. Je nach Geschäft kann das vorteil- oder nachteilhaft sein.

Parlament als Alternative
Urnenabstimmungen beeinflussen den Wahlausgang. Sie sorgen für mehr Stimmbeteiligung, Gemeindeversammlungen hingegen für mehr Informationen. Eine Alternative sind da die Parlamente. Volksvertreter können sich gut informieren und die Traktanden in Vertretung für ihre Mitbürger ideal behandeln. In Köniz oder in Wünnewil-Flamatt wäre dieses System nicht mehr wegzudenken. «In unserer Gemeinde hat am Anfang der Wechsel auf das Parlament aber ein gewisses Desinteresse der Bevölkerung ausgelöst,» verrät Freiburghaus. Der Nachteil der Parlamente wäre also, dass die Menschen die örtliche Politik weniger verfolgen. «Mit öffentlichen Besichtigungen zu den Geschäften der folgenden Sitzung konnten wir das Interesse aber wieder steigern», zeigt der Ammann auf, wie man versucht hat, Gegensteuer zu geben. Für Parlamente kommt zudem erschwerend hinzu, dass die Gemeinde eine gewisse Grösse haben muss, damit überhaupt ein Parlamentsbetrieb auf die Beine gestellt werden kann. In einem kleinen Ort wäre es schlicht unmöglich genügend Vertreter zu finden, dort wo etwa schon die Suche nach Gemeinderäten nicht einfach ist.

Die Coronasituation hat also in der Kommunalpolitik eines deutlich gemacht: Urnenabstimmungen sind eine gefährliche Alternative für die Gemeindeversammlungen. Sie sorgen zwar für eine höhere Stimmbeteiligung, können aber den Ausgang der Wahlen über den Haufen werfen. Sie sind nur dort eine valable Alternative, wo der Erklärungsbedarf des Gemeinderates überschaubar bleibt. Grössere Gemeinden können diese Situation nutzen, um wieder einmal über ein Parlament nachzudenken. Wenngleich dann wiederum die Gefahr droht, die Bevölkerung abzuhängen. Ein Patentrezept gibt es nicht, nur die Erkenntnis, wenn an der Urne abgestimmt wird, entscheiden Tausende statt Duzende und das hat Konsequenzen.
Sacha Jacqueroud

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