Es regnet, die Temperaturen sind eher Nachwehen des Winters als Vorboten des Sommers. Die jungen Fussballer räumen die letzten Bälle vom Feld. Die Stimmung ist gedrückt, die soeben erlebte Niederlage schmerzt. Die Jungs sind ehrgeizig und gehen normalerweise als Sieger vom Platz. Einer von ihnen ist Kaba Sanyang. Der zwölfjährige Könizer träumt von einer Karriere als Profifussballer, am liebsten beim FC Liverpool, wo seine beiden Vorbilder Mohamed Salah und Sadio Mané ebenfalls gespielt haben. Der Weg bis dahin ist weit und beschwerlich, das ist dem fussballbegeisterten Jungen bewusst. «Man muss viel trainieren, motiviert sein und bleiben, um immer besser zu werden», stellt er klar, «man muss auch akzeptieren können, mal verletzt zu sein, und auch weitermachen, wenn es mal nicht läuft. Und Respekt haben, mit Menschen umgehen können.» Die Chancen, dass Kaba Sanyang sein Ziel erreichen wird, sind noch intakt: Der eiserne Wille stimmt, das Talent ebenfalls. Ab Sommer wird der junge Spieler die Fussballschule im Steinhölzli besuchen und alles auf die Karte Fussball setzen.
25 Stunden Training pro Woche
Auch Luna Gut hat sich jahrelang ganz auf die Verwirklichung ihrer Passion, des Kunstturnens, konzentriert. Dabei schwang auch immer der ganz grosse Traum einer Profisportlerin mit: «Die olympischen Spiele, klar.» Seit ihrem vierten Lebensjahr hat die junge Frau unzählige Stunden in ihre Karriere investiert, mit Leidenschaft bis zur Perfektion und bis an die Schmerzgrenze trainiert – und darüber hinaus. Zuletzt verbrachte sie rund 25 Stunden pro Woche in Trainings des Regionalen Leistungszentrums RLZ Bern. Mehr als vier Wochen Ferien lagen dabei nicht drin. Ein intensives Programm für die Fünfzehnjährige und nur möglich, weil sie durch ihren Platz im Nationalkader mit der Swiss Olympic Talentcard eines der begehrten Eintrittstickets in die Feusi Sportschule Bern besass. Im letzten Herbst war der so lange verfolgte Weg an die Spitze abrupt zu Ende. «Ich war in den letzten eineinhalb Jahren ein paar Mal verletzt. In dieser Zeit konnte ich fast nichts machen», erzählt Luna Gut. Der Leistungsdruck im Kunstturnen ist immens, Schwächen werden nicht gezeigt, wer verletzt ist und nicht liefert, wird gnadenlos fallengelassen. Davon sind sie und ihre Mutter Eva Kimlova Gut nach ihren Erfahrungen überzeugt. Als das Leiden kein Ende nahm und auch seitens Verantwortlicher kein Support kam, musste eine Entscheidung her. «Schlussendlich haben wir als Eltern den Schlussstrich gezogen», stellt Kimlova Gut fest.
Hilfe kommt nicht von allein
Die gemachte Erfahrung ist für Luna Gut und ihre Mutter nach wie vor schmerzhaft. «Sobald sie nicht mehr im Kader sind, sind die Kinder nicht mehr interessant», ist Eva Kimlova Gut überzeugt. Es gebe keine Hilfestellungen, man werde allein gelassen als Jugendliche, aber auch als Eltern. Alles, was Luna Gut über die schwierige Zeit geholfen hat, hat die Familie organisiert – Einblicke in andere Sportarten, Begleitung durch eine Psychologin, Aufbau von beruflichen Perspektiven und schulischen Anschlusslösungen. Von den Verantwortlichen fühlen sie sich seit Jahren im Stich gelassen. Für Eva Kimlova Gut ist klar: Man muss sich unbedingt Hilfe holen. Die grosse Frage ist nur, wo. Tatsächlich fehlt das Angebot weitgehend, junge Menschen, die mit dem Karriereende konfrontiert sind, fallen durchs Raster.
Bevor es zu spät ist: WITR
«Dieser Schritt kann grosse Wunden hinterlassen bei Jugendlichen und es kann sein, dass sie sich zurückziehen», erklärt Rafael Wieland, «wichtig ist, in dieser Situation die Beziehung zu pflegen, da zu sein, Verständnis zu zeigen und keinen Druck aufzubauen.» Der Sozialarbeiter aus Köniz hat sich mit der schwierigen Übergangsphase zwischen Karriereende und Neuanfang befasst, nachdem ihm die Thematik in seinem eigenen Umfeld immer wieder begegnete. Platzt der Traum von der Profikarriere, sind die Jugendlichen nicht nur mitten in einem Trauerprozess, sondern zeitgleich auch mit Identitätsfragen konfrontiert. «Es gibt viele Entwicklungsaufgaben, die sie nicht bewältigen können oder konnten neben dem Leistungssport», so Wieland. Es gebe Angebote rund um die oft verpasste Berufswahl, aber keine, die sich dem Übergang als solchem widmen. Zusammen mit Gianluca Triaca will er künftig genau diese Lücke schliessen. Die beiden Sozialarbeiter bieten mit WITR ein Beratungsangebot für Sportlerinnen und Sportler, aber auch für ihre Familien, um den Sprung in den Alltag ohne Leistungssport zu schaffen. «Unsere Vision ist, dass wir in den Prozess mit einbezogen werden, bevor es zu spät ist», so Wieland. Wichtig ist den beiden, zusammen mit den Jugendlichen in einer ersten Phase die vorhandenen Ressourcen anzuschauen und wertzuschätzen. In einer zweiten Phase wird ein persönlicher Handlungsplan aufgebaut, der den Jugendlichen möglichst selbständige weitere Schritte ermöglichen soll. Die beiden Berater können zwar auffangen, doch Verbände und Verein müssten ihre Verantwortung anerkennen und auch wahrnehmen.
FC Köniz will begleiten
In der Nachwuchsförderung von Sportverbänden ist das Bewusstsein für die Thematik unterschiedlich. Bei Luna Gut fand weder eine Verabschiedung noch eine Nachbetreuung statt. Spind ausräumen, Tschüss sagen – das war’s. Beim Team Köniz – der Spitzenfussball-Nachwuchsabteilung des FC Köniz, von der junge Talente später auch zu Profi-Clubs wechseln können – erhalten solche Momente mehr Raum. Thomas Hofmann ist Verantwortlicher für Kaderbildung und Scouting und damit direkt involviert, wenn ein junger Fussballer die Nachricht vom Karriereaus erhält. Die jungen Spieler liegen ihm am Herzen, er begleitet sie über mehrere Jahre. Drastische Entscheidungen würden nicht leichtfertig gefällt. «Die Spieler sollen auch mal eine schwierige Phase durchlaufen dürfen», so seine Überzeugung, «heikel wird es, wenn über einen längeren Zeitraum kaum eine Entwicklung stattgefunden hat, die persönlichen Erfolgserlebnisse ausbleiben und so Freude und Motivation immer mehr abnehmen.» In regelmässigen Gesprächen werde die Leistung reflektiert, damit die Entscheidung am Ende nicht aus dem Nichts komme. Kommt es tatsächlich zu einem Ausschluss, sei dies immer ein schmerzhafter Moment, auch für ihn selbst. «Mir ist wichtig, die Trauer zuzulassen und den Emotionen Raum zu geben», betont Hofmann, «unser grösstes Ziel ist, dass die Jungs nicht mit dem Fussball aufhören.» Dies gelinge, indem der Kontakt zum Stammverein wieder aufgebaut werde. Der Abschied aus dem Kader werde ebenfalls gemeinsam besprochen und von den Spielern mitgestaltet. Als Scheitern will er das Karriereaus nicht bezeichnen: «Wir geben den Kindern und Jugendlichen sehr viel mit, was für sie im späteren Leben von grosser Bedeutung ist und von dem sie ein Leben lang profitieren können.»
Schritt für Schritt weiter
Das sieht auch Kunstturnerin Luna Gut so. Mit etwas Abstand zum letzten Herbst kann sie ruhiger auf den schmerzhaften Ausstieg zurückblicken. Sie habe viele Erfahrungen sammeln können, ihre körperlichen und psychischen Grenzen kennen gelernt, ist diszipliniert und fokussiert. «Ich habe gelernt, durchzubeissen, auch wenn etwas mal nicht geht. Und ich stehe immer wieder auf!», so die junge Frau. Know-how, welches sie auch in Zukunft brauchen kann. Für sie eine Zukunft in einer anderen Sportart, aber mit grösserer Leichtigkeit und wieder mehr Freude am Sport. Plan B? Erst das Gymnasium, was danach kommt, muss sich noch konkretisieren. Fragen, die sich Nachwuchsfussballer Kaba Sanyang noch nicht stellen muss. Wichtiger ist ihm, beim nächsten Spiel mit seinen Teamkollegen die Niederlage wieder wettzumachen. Und danach Schritt für Schritt seinen Weg zu verfolgen. Bis ganz oben.