Zwei Brüder im finsteren Wald

Zwei Brüder im finsteren Wald

Wie können wir uns die Landschaft Schwarzenburgs vor 1000 Jahren vorstellen? Welche Menschen bewohnten sie damals? In welche politischen Verhältnisse war sie eingebunden? Der nachfolgende fiktive Erlebnisbericht eines lokalen Adligen versucht, trotz der spärlichen Quellenlage ein mögliches Bild jener längst vergangenen Epoche nachzuzeichnen.

Mein Name ist Luitoldus. Ich bin 16 Winter alt und der älteste Spross des Edelherrn von Rumelinga, der im Namen des Grafen von Barga  an der Jurovîna  in Nuithlandia  Hof hält. Heute reitet mein Vater mit mir und meinem jüngeren Bruder Reginfredus in die Waldwildnis von Zwischenwassern, wo jagdbares Wild in Hülle und Fülle herumstreift. Es ist ein warmer Herbsttag im Jahre des Herrn 1025. Von unserem Magister weiss ich, dass dies zugleich das 32. Regierungsjahr von König Rudolf dem Dritten ist, welcher mit Gottes Gnade in Burgund regiert. Das Laub der Buchen, Eschen und Ulmen beginnt sich bereits zu verfärben, und aus dem tiefen Wald erklingt das durchdringende Röhren der brunftenden Hirsche. Ein guter Tag, um das Wild zu hetzen. Mit unserem Jagdmeister und den Hundeführern reiten wir zunächst zu dem Kirchlein am Berg des Ruotger, welches angeblich weiland von der guten Königin Bertha gestiftet worden ist. Von hier folgen wir der alten Römerstrasse Richtung Westen. Unsere Familie verfügt in diesem Gebiet über einige Besitzungen, deshalb haben wir hier das Jagdrecht inne. Nachdem wir das Schwarze Wasser gequert haben, führt der Weg an den Resten eines alten römischen Kastells vorbei auf eine Hochebene hinauf. Soweit das Auge reicht, ist dies bis zum heutigen Tage ein ungezähmtes Land geblieben, eine schaurige Wildnis, in deren uralten Wäldern allenthalben vielhundertjährige Bäume zum Himmel aufragen. Tiefe Schluchten und von schäumenden Wassern ausgewaschene Gräben erschweren das Vorankommen erheblich. Wo sich die Bäche durch flachere Talsohlen winden, ist das Gelände versumpft und voller mückenverseuchter Erlenbrüche. Kein Wunder, dass man den Bewohnern von Nuithlandia nachsagt, sie scheuten das Licht des wahren Glaubens und opferten im tiefsten Dickicht noch immer an überwachsenen Altären aus der Heidenzeit. Ich habe Vater des Öfteren darauf angesprochen, dass es an der Zeit wäre, anstellige Mönche in diesem Landstrich anzusiedeln, auf dass sie den eigensinnigen Waldbauern das Wort des Herrn predigen. Während wir unter dem wispernden Kronendach des endlosen Waldes dahinziehen, male ich mir aus, wie ich mich dermaleinst einem solch gottgefälligen Werk verschreibe, sobald mein Vater mir die Gewalt in unseren Stammlanden übertragen hat.

Bald erreichen wir eine grössere gerodete Fläche mit einem kleinen See, an dessen Gestaden einst eine grosse Heidenstadt gestanden haben soll. Auch die Römer hätten sich hier niedergelassen, als sie ihre Heerstrasse quer durch Nuithlandia anlegten, wie Vater erklärt. Sie hätten den Wald zurückgedrängt und hier ansehnliche Gutshöfe und eine Raststation unterhalten. In der Nähe steht immer noch eine kleine Siedlung. Sie wird von Hörigen unserer Familie bewohnt, welche dem vernässten Boden mit viel Beharrlichkeit spärliche Ernteerträge abtrotzen und auf den Riedwiesen ihre struppigen Ziegen weiden. Ich frage mich, ob sie wohl Christum huldigen oder nach wie vor ihre alten Götzen in Ehren halten? Unser Vater zeigt meinem Bruder und mir ausserhalb des Etterzauns ein Gräberfeld aus der Altvorderenzeit, welches fast bis zur Unkenntlichkeit überwuchert ist. Ein Heidenkönig aus der versunkenen Stadt Helisee sei hier begraben, murmelt der Edle von Rumelinga und bekreuzigt sich. Mich schaudert bei diesem Anblick, und ich bin froh, dass wir bald weiterreiten.

Sobald wir wieder am Waldsaum anlangen, beginnen die Hunde anzuschlagen. Sie haben eine Witterung aufgenommen. Der Jagdmeister untersucht den feuchten Boden und zeigt uns die Trittsiegel eines Hirsches. Ich erkenne, dass es wahrhaft ein kapitales Tier sein muss. Frohlockend eröffnet unser Vater die Hatz. Die Fährte führt zunächst an der Oberkante einer gewundenen Schlucht entlang, bis wir eine Meile weiter westlich eine ausgedehnte Geländesenke erreichen, die von einem Bach durchlaufen wird. Auch hier treffen wir auf eine kleine Rodung am alten Römerweg, die sich wie eine Insel inmitten der schwarzen Waldwildnis ausnimmt. Tüchtige Siedler sind hier am Werk. Sie machen auf Geheiss des Abtes von Agaunum, in dessen Besitz sich die Landschaft Zwischenwassern befindet, den Boden urbar, erläutert Vater. Ich bin erleichtert, dass der hochdekorierte Kirchenfürst aus Vallesia  begonnen hat, seinen segnenden Einfluss auf diese verwahrloste Gegend auszuüben. Suirarcenburc nennen sie diesen Flecken, was in der alten alemannischen Sprache «die schwarze Burgstatt» bedeutet, und auf einem auffallenden Hügel nebenan erhebt sich sogar eine kleine Kapelle, welche sie der heiligen Maria-Magdalena und dem heiligen Jakobus geweiht haben. Die Augen meines Bruders beginnen zu strahlen, als er diese Stätte tüchtiger Schaffenskraft betrachtet. Reginfredus war stets derjenige von uns beiden, der sich durch einen ausgeprägten Tatendrang auszeichnete, wo ich selbst hingegen eher der frommen Gelehrsamkeit und den Schriften zugetan bin.

Als wir die Spur des Hirsches wieder aufgenommen haben, vertraut mein jüngerer Bruder mir an, dass unser Vater sich mit dem Gedanken trage, ihn hier als Verwalter einzusetzen – und dass er dahingehend nach Agaunum geschrieben und daselbst um einen Pachtvertrag für einen Neubruch in Suirarcenburc angesucht habe. Da das Lehen Rumelinga einst mir zufallen wird, halte ich es nur für rechtens, wenn Reginfredus dafür in Zwischenwassern ein Stück Land in seine Obhut nehmen und so den Einfluss der grimmigen Wildnis hier etwas zügeln kann. Bis dahin mag es aber noch eine Weile andauern, denn für das kommende Frühjahr ist erst einmal Reginfredus’ Hochzeit mit der Edeltochter Adelaidis angesetzt. Diese Dame entstammt ebenfalls einem gottesfürchtigen Geschlecht des Bargengaus, und so mehrt sich meine Hoffnung, dass im finsteren Schoss von Nuithlandia bald das reine Licht christgefälliger Kultivierung erstrahlen wird. Diese innere Schau künftiger Geschehnisse beflügelt mich, als Vaters laute Stimme auf einmal meine ganze Aufmerksamkeit erheischt. Die Hunde haben den wilden Hirsch gestellt, und die Hatz kann beginnen.

1000 Jahre Schwarzenburg
Anlässlich des irrsinnig grossen, runden Geburtstags der Zentrumsgemeinde startet die Berichterstattung mit einem Rückblick. Das Fest wird in der nächsten Ausgabe thematisiert – einzelne Projekte rund um die 1000 Jahre Schwarzenburg ebenfalls.

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