Akustische Zeitreisen im Lehmbau

Akustische Zeitreisen im Lehmbau

Wie klingt etwas unter optimalen Bedingungen? Bei Jürgen Strauss kann man dies herausfinden. In den Ansprachen zur Eröffnung Mitte Mai überschlugen sich die Superlative beinahe: «Referenzeinrichtung», «weltweit einzigartig», «praktisch uneingeschränktes Hörerlebnis», «extrem gleichmässiger Klang» – was hinter dem Bahnhof Wabern in der alten Gurtenbrauerei entstanden ist, zieht Aufmerksamkeit auf sich.

Im vergangenen Jahr wurden in den Industriehallen der ehemaligen Gurtenbrauerei ein Tonstudio sowie ein sogenanntes Tonlabor gebaut. Beide sind Ausnahmekonstruktionen. Letzteres besteht aus der «ersten robotergefertigten Lehmwand auf diesem Planeten», wie der Gründer und CEO von «SE Musiclab», Jürgen Strauss, verkündete.

Wie im verschneiten Bergtal
Der Mensch nutzt den Baustoff Lehm seit rund 10’000 Jahren. In Wabern beeindruckt die Mischung aus Sand, Schluff und Ton mit ihren regulierenden und schallisolierenden Eigenschaften. 60 Tonnen davon – im nassen Zustand waren es gar deren 72 – wurden, aufgeteilt in 32’000 Stücke, während dreier Monate zusammengesetzt und -gepresst. «Die äussere Mauer muss so schwer sein, dass sie sich auf Grund von Vibrationen durch vorbeifahrende Züge oder leichte Erdbeben nicht bewegt, denn wir wollten grösstmögliche Ruhe erzeugen», erklärt Strauss. Die Wände sind 20cm breit, 5m hoch und freitragend – also frei von jeglichem anderen Material. Zudem stehen sie auf einer Art Feder. Das Bauwerk schafft so im Innern fast vollständige Ruhe. «Es ist etwa so ruhig wie in einem komplett verschneiten, abgelegenen Bergtal», verbildlichte es der Initiant.

Akustische Zeitreise
«Aufgezeichnete Klangbilder», also Musik oder Geräusche, können praktisch unverzerrt gehört werden – dies dank einem 3D-Beschallungssystem. 24 Lautsprecher – alle von Jürgen Strauss entwickelt und gebaut – und fünf Subwoofer bündeln die Klänge zur Mitte hin. Dort können bis maximal fünf Personen beschallt werden. Genutzt wird der neue Standard «Dolby Atmos» mit zwei Ebenen. Dieses System ermöglicht eine realistische Simulation von Geräuschen in einem Raum. So wird etwa «Auralisation» möglich: Ausgehend von einem digitalen Modell können nicht existierende Räume hörbar gemacht werden. Es gab zum Beispiel ein Forschungsprojekt zum Komponisten Joseph Haydn bzw. zum Opernhaus in Ungarn, das 1779 niederbrannte. Mit historischen Bauplänen konnte es digital rekonstruiert werden, seine Akustik wird ins Tonlabor in der Gurtenbrauerei «übersetzt»: Dort ist es nun möglich, ein Konzert zu geniessen, als würde man im Opernhaus des Schlosses Esterházy sitzen. Musikarchäologie nennt sich das. Natürlich kann akustisch auch in die Zukunft gereist werden: Architekturbüros etwa können basierend auf den digitalen Modellen ihre Gebäude hörbar machen, bevor sie gebaut sind, und so je nach Resultat noch Anpassungen vornehmen.

Forschung, Wirtschaft, Musik
«Die Wiedergabe von Schall kommt im Alltag überall vor und es ist eine gestalterische Tätigkeit», so Akustikprofi Strauss. Sein Labor steht darum Schulen und Hochschulen zur Verfügung, Forschende sollen damit arbeiten, E-Games-Programmierer mit seiner Hilfe Sounds entwickeln können. Er betont: «Wir wollen einen Beitrag für die Audiotechnik leisten, damit bessere Sounds erreicht werden können.» Psychoakustische Experimente ermöglichen es herauszufinden, welche Geräusche gefallen und was als störend wahrgenommen wird – was für einige Wirtschaftszweige von Interesse sein dürfte. Natürlich profitieren auch Musikschaffende. Ebenfalls weltweit einzigartig ist nämlich, um bei den Superlativen zu bleiben, die Verbindung zum Tonlabor. Was im Studio gespielt wird, kann direkt ins «Lab» übertragen und «im immersiven Format» angehört werden, also nicht nur wie herkömmlich linear von vorne her. Das Studio selbst ist ebenfalls ein spezieller Bau: ein Doppeltrapez mit Wänden, die nicht parallel sind. Dadurch entstehen keine Flatterechos. Die leicht schräg gestellten Wände lenken die Schallenergie nach oben und lassen den Raum «grösser» klingen, als er ist. «Helmholz-Resonatoren» in allen Wänden lassen sich flexibel öffnen und schliessen – so werden die Frequenzen beeinflussbar.

Man merkt: Jürgen Strauss ist ein «Tausendsassa», wie Anna Aebischer, Aktionärin bei der SE Musiclab AG (und vor vielen Jahren Freie Mitarbeiterin bei dieser Zeitung), ihn an der Eröffnung beschrieb. Nach seiner Lehre als Physiklaborant baute er eigene Lautsprecher, weil ihm das Geld für gute Exemplare fehlte. Bald gehörten seine Monitore zur Weltklasse, seit Jahren sind sie international gefragt. Heute ist er unter anderem ETH-Dozent für Akustik. Der Zusammenhang von Raum und Akustik interessiert ihn, die erste Idee für das «Musiclab» hatte er vor rund fünf Jahren. Der immense Aufwand hat sich gelohnt, sagt er: «Auf der ganzen Welt gibt es sonst keinen solchen Raum.»

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