Eigentlich wäre ein Interview mit Karin Flückiger-Stern angedacht gewesen. Aus gesundheitlichen Gründen muss sie kürzertreten und sucht für ihre Haaroase eine Nachfolge. Dann die erfreuliche Wendung: Ihre Mitarbeiterin Giovanna Coppola ist bereit, in die grossen Fusstapfen zu treten. Wie gross diese sind, sagt Coppola gleich selbst: «Sie ist für mich Mutter Teresa.» Ein Hinweis auf die unzähligen sozialen Engagements, die für Karin Flückiger typisch sind. Wo andere schöne Worte formen, nimmt sie die Schere in die Hand und schneidet Obdachlosen die Haare. Seit vielen Jahren. Und das ist nur ein Beispiel. «Ich finde es einfach wichtig, dass man sich für Schwächere einsetzt», sagt Flückiger, für die das so selbstverständlich ist wie Haarewaschen. Doch Giovanna Coppola lässt sie nicht so einfach davonkommen: «Sie hat wirklich ein grosses Herz.» Dankbarkeit strahlt aus ihrem Gesicht und das Strahlen wird von Karin Flückiger erwidert. Dann wechselt der Blick auf die andere Seite des Tischs und Coppola ergänzt: «Sie hat mir schnell viel Vertrauen geschenkt, das schätze ich so an ihr. Wenn es nicht sie wäre, ich hätte den Schritt in die Selbstständigkeit nicht gemacht.»
Und jetzt erhält sie gar noch mehr Vertrauen, denn ab dem 1. Juni wird aus Flückigers Haaroase GiovannasHaarOase. «Sie unterstützt mich und steht hinter mir, das bedeutet mir viel. Dennoch tut es weh, dass sie aufhört», sagt sie. Flückiger rückt den Stuhl zurecht, schaut sie an und meint: «Ich bin ja noch da.» Die Schere an den berühmten Nagel zu hängen, das geht bei dieser Powerfrau dann doch nicht. «Ich werde den älteren Menschen bei der Senevita Wangenmatt weiterhin die Haare schneiden, diese Begegnungen sind mir wichtig», räumt sie ein. Mehr noch, sie ist auch bei Handarbeiten und anderem immer wieder für die älteren Mitmenschen da. «Ich sag ja, Mutter Teresa», fügt Coppola hinzu.
Ein stiller Zuhörer dieser Worte steht schon lange da. Keine Person und doch ein Symbol eines Vierteljahrhunderts Haaroase. Ein paar Stühle, ein paar Zeitungen und Magazine umrahmen einen alten Holztisch. Er lädt ein, zu verweilen. Männer warten auf ihre Frauen, «und klopfen schon mal einen Jass», lacht Flückiger. Der Tisch ist ein Symbol für die Gesprächskultur in der Haaroase. Auch jetzt, wo die beiden Frauen selbst zum Gespräch gebeten werden. Es geht etwas Magisches von dem Tisch aus, so als könnte er besondere Momente erzeugen. Kaum beginnt das Interview, korrigiert Flückiger Coppolas Berndeutsch. In den Ohren eines welschen Schreiberlings ein waschechtes Berndeutsch. Doch das Ohr trügt. Karin Flückiger will die Schönheit des Dialekts bewahren und trägt ihr Sorge, damit «kein Baustellen-Berndeutsch» entsteht, ergänzt sie. Umgekehrt erinnert Coppola ihre Vorgängerin daran, dass es mit ihren Fortschritten im Italienischen noch nicht so weit her ist. «Fa niente», was noch nicht ist, kann ja noch werden.
Nach und nach wird klar, wofür das Wort Oase steht: für Wohlbefinden, für Sich-sein statt nur Schein. «Beim Coiffeur muss man sein dürfen, wie man ist», fasst es Coppola zusammen. Eine Oase mit einem Tisch mittendrin. Schmerzt das Gefühl, bald von diesem Tisch aufstehen zu müssen? «Nein, nicht mehr», sagt Flückiger ohne Umschweife, «nun weiss ich, dass mit Giovanna die richtige Person dies hier weiterführt.» «Mit dem Tisch», ergänzt diese mit weit geöffneten Augen. «Schon als ich das erste Mal hier war, habe ich mich in diesen alten Tisch verliebt.» Flückiger lächelt und nickt: «Ja, der Tisch wird natürlich bleiben.» Und mit ihm auch die Magie dieses Ortes. Mitten im Einkaufscenter Niederwangen, umgeben vom emsigen Einkaufstreiben und der stark befahrenen Freiburgstrasse wird man gebeten zu lächeln und einzutreten. Was, wenn nicht das, ist denn bitteschön eine Oase?
Doch bei diesem Gedanken kann man nicht lange verweilen, denn bereits tauchen die beiden Frauen gedanklich ab zu jenem Samstag, den 31. Mai, an dem um 13 Uhr die Übergabe auf eine ganz besondere Art vonstattengehen soll. Ein Kunde erhält in Niederwangen den vielleicht symbolträchtigsten Haarschnitt aller Zeiten. Eine Seite wird Karin Flückiger machen, die andere Giovanna Coppola. Ein Zeichen für das Übernehmen der Komptenez, der Erfahrung und des Könnens, das hier hochgehalten wird. Aber auch ein Zeichen des Vertrauens. Eines, dass die Oase weiterhin nicht vor Wasser, sondern vor Lebensfreude sprudelt.
Und plötzlich reift eine Erkenntnis. Nicht der Tisch ist magisch, sondern diese beiden Frauen. Sie sorgen für ein Konzept, das in der heutigen Zeit wichtiger denn je geworden ist. Der Tisch ist vielmehr Mittel zum Zweck. In seiner stoischen Ruhe übernimmt er das Lächeln und verwandelt es in Ruhe und Einkehr. Den Rest, den übernehmen dann die Mitarbeitenden. Und wenn der Spiegel nach dem Haarschnitt wieder zufrieden angelächelt wird und die Kunden die Oase verlassen, bleiben ab und an auch die einen oder anderen Sorgensäcke draussen einfach liegen. Das war bei Karin Flückiger-Stern so und wird bei Giovanna Coppola so weitergehen, daran lässt dieses Interview keinen Zweifel. Das Gefühl, sich hier eine Auszeit nehmen zu können, wird bestehen bleiben.