Vom 13. bis ins 15. Jahrhundert waren Stoffe mit Tierdarstellungen in Mode. Die gesellschaftliche Elite kleidete sich in gemusterte Seide, auf denen Adler, Gazellen, Löwen, Hunde oder Pelikane zu sehen waren. Zu lebendigen kleinen Szenen zusammengefügt, regen sie auch heute die Fantasie des Betrachters an. Am kommenden 24. April eröffnet die Abegg-Stiftung in Riggisberg ihre Saison mit einer Sonderausstellung, die bis zum 13. November zu sehen sein wird. Die Kuratorin Evelin Wetter hat unter dem Thema «Das Tier in der mittelalterlichen Textilkunst» eine Sonderausstellung zusammengestellt. «Mir ging es im Wesentlichen darum, diese bildhaften Stoffe mit geradezu märchenhaften Motiven wieder einmal zu zeigen. Einige davon waren in den letzten Jahren auch in der Dauerausstellung zu sehen. Aber die meisten ruhten im Depot», erklärt Evelin Wetter. Die Sonderausstellung diene jeweils dazu, Objekte aus den eigenen Beständen zu zeigen. Die Abegg-Stiftung nehme
üblicherweise keine Leihgaben von anderen Institutionen entgegen. «Wir bestücken unsere Ausstellung aus dem eigenen Bestand. Dieser ist so reich, dass wir jedes Jahr etwas thematisch Neues zeigen können», fügt die Kuratorin hinzu.
Weg in die Abegg-Stiftung
Die mittelalterlichen Kunst-
stücke stammen vielfach aus lutherischen Kirchen im Norden Deutschlands. Mitte des 19. Jahrhunderts, als man anfing, sich im Rahmen der katholischen Erneuerung für mittelalterliche Textilien zu interessieren, besuchte ein Pionier zur Erforschung mittelalterlicher Textilkunst diese Kirchenschätze und liess sich die kostbaren Gewebe zeigen. Oftmals konnte er einen Teil der Textilien erwerben. Deshalb befindet sich in den Kirchen, grob gesagt, noch eine Hälfte eines Gewandes, während die andere Hälfte – mehrfach zerteilt – an die damals im Aufbau befind-
lichen Kunstgewerbemuseen und an private Sammler gelangte. Die Abschnitte der Privatsammler erschienen nach deren Ableben wieder auf dem Kunstmarkt, just zu einer Zeit, in der Werner Abegg begann, seine Sammlung historischer Textilien aufzubauen.
Die meisten dieser Objekte, deren Erhaltungszustand ganz unterschiedlich sein kann, wurden im Atelier der Abegg-Stiftung konserviert. Unter Anleitung der Mitarbeitenden des Ateliers sind darin stets auch die Studierenden des Studiengangs involviert, den die Abegg-Stiftung im Bereich Textilkonservierung/-Restaurierung durchführt. In der Ausstellung werden die fragilen Gewebe nun ihrem Zustand entsprechend präsentiert. Nach Ende der Ausstellung wird man sie wiederum ins Depot bringen und in die vor Licht und Staub schützenden Schränke mit stabilem Klima einräumen.
Begehbares Hörbuch
Eines der interessantesten Exponate der Sonderausstellung ist das Gewand eines Diakons, der dem Priester bei der Messe assistierte. Es stammt aus der norddeutschen Hansestadt Stralsund, und es entstand in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Es ist aus drei verschiedenen, zum Teil älteren Geweben gefertigt. Der Hauptstoff zeigt auf blau-grauem Grund Reihen voneinander gegenüberstehenden Panther- und Pelikanpaaren. Zu ihren Füssen befinden sich die hungrigen Nestlinge. Der Panther wie die Pelikane galten als Symbole für Christus.
Um die Bedeutung der Tierdarstellungen näher zu beleuchten, geht die Ausstellung neue Wege. Die Textilien werden durch literarische Quellen flankiert. Dazu stellt die Abegg-Stiftung allen Interessenten Audiogeräte zur Verfügung. Anhand von originalen Textausschnitten, auf Mittelhochdeutsch oder Altfranzösisch, vor allem aber anhand kommentierter Übersetzungen, können die Besucher beim Betrachten der kostbaren Stoffe tief in die Gedankenwelt des Mittelalters eintauchen. Mit bekannten Schauspielern wurden insgesamt acht Lesungen produziert. «Den Besuchenden wird darin erstaunlich klar Auskunft über das auf den Stoffen dargestellte Motiv gegeben», freut sich die promovierte Kunsthistorikerin Evelin Wetter. Und sie ergänzt: «Mit Kopfhörern ausgerüstet, können sich die Besucherinnen und Besucher in der Ausstellung dann wie in einem begehbaren Hörbuch bewegen. Damit schaffen diese Lesungen eine Art erweiterten Vorstellungsraum.»