…denn wir sind nur zu Gast

…denn wir sind nur zu Gast

«Grüeni Wälder, dunkli Schätte; hinde dra der Firneschnee. Wie ne Garte, Fäld und Matte; säg, mys Härz, was wit no meh?» Das Jodellied «Bärnbiet» besingt wie viele andere die Schönheit unserer Natur. Nur, stimmen die Inhalte dieser Lieder noch mit der heutigen Natur überein? Experten aus unserem Gebiet sagen «Jein».

Ein Waldlaubsänger zwitschert zufrieden auf einem Ast. Der leichte Wind lässt die Bäume rascheln, die Sonne durchdringt punktuell wie Scheinwerferlicht das Blätterdach. Plötzlich kräht der Eichelhäher. Es ist ein Warnruf an die Mitbewohner. Wenig später taucht eine Horde Menschen auf, laut redend, gestikulierend und fernab vom Waldweg versetzen sie die Tiere in Aufruhr. Das Rauschen der Bäume ist übertönt und der Waldlaubsänger guckt mit verängstigten Augen auf sein Nest. Dieses liegt gut versteckt am Boden und wird von der stampfenden Meute nur knapp verfehlt. «Ich persönlich denke, dass wir eine Konsumgesellschaft geworden sind, und das zeigt sich auch an unserem Umgang mit der Natur», sagt Jürg Schär.

Der Wald
Seit über 30 Jahren ist der «Waldmann» darum bemüht, die Sinnesorgane der Menschen zu schärfen, damit sie die Naturordnung begreifen und zur Ruhe kommen. «Wir schenken ihnen Raum und Zeit», fasst der Leiter der Institution Wakónda zusammen.
Wie wichtig dieser achtsame Zugang ist, weiss der Wildhüter Yves Portmann. Die Natur und insbesondere der Wald «ist das Daheim der Wildtiere», erzählt er auf der Gibelegg. Störfaktoren für diese Bewohner kennt er viele und als «Polizist der Wildtiere» vermittelt er zwischen Mensch und Tier. Immer mit dabei sind seine beiden Hunde. «Ohne sie könnte ich meine Aufgabe kaum wahrnehmen», verweist er auf Tiere, die er nach Kollisionen suchen muss, denn: «Es gibt eine unverzügliche Meldepflicht, wenn man ein Tier angefahren hat, ob es daliegt oder weg­springt.» Hündin Aischa hört ihm aufmerksam zu, als er ergänzt: «Wir brauchen Gebiete, die der Mensch nicht betreten darf, damit die Tiere ihre Ruhe finden.» Er verweist insbesondere auf den Winter, wo eine Flucht vor Menschen viel Energie kostet. Diese «Wildschutzgebiete» nützen aber wenig, wenn etwa ein Hobby-Drohnenpilot über das Gebiet surrt.

Die Tiere
Bei dieser Störung müsste der Eichelhäher wieder einen Warnruf absetzen. Nur erreichen seine Warnungen immer weniger seiner gefiederten Kameraden. Das weiss der Biologe und Vogelexperte Dr. Hans Märki aus Mamishaus nur zu gut. «Vögel sind Indikatoren. Je mehr Vogelarten in einem Gebiet existieren, desto intakter ist der Lebensraum», verrät er und zeigt auf die Ebene vor seinem Haus: «Wir haben hier nur noch eine kleine Anzahl Vögel, weil sich die Landwirtschaft stark verändert hat, intensiver geworden ist und es kaum noch blütenreiche Dauerwiesen hat.» Es sieht grün und friedlich aus in dieser Gegend, aber der Schein trügt. «Bodenbrütende Vögel wie die Feldlerche sterben aus. Ein paar wenige hat es hier noch, in breiten Teilen des Mittellandes sind sie bereits verschwunden», nennt er ein Beispiel aus den Wiesen und Matten und fährt mit Wiedehopf, Flussuferläufer oder Auerhuhn fort. Alles Tiere, die wenig Störung dulden und deshalb vom Aussterben bedroht sind. Mitten unter uns, mitten in einem vermeintlich so idyllischen Gebiet. «Viele Arten nisten wie der Waldlaubsänger am Boden. Sie sind besonders gefährdet», ergänzt er und stimmt in den Kanon von Wildhüter Portmann mit ein, indem er mehr Ruhezonen für die Tiere wünscht. Damit Menschen weniger stören und die Natur mehr achten, empfiehlt er: «Sich mit der Natur vor der Haustüre auseinanderzusetzen. Den Namen einer Pflanze oder eines Tiers zu kennen und zu wissen, was diese brauchen und wie sie leben, schafft eine Beziehung und ein Bewusstsein.»
Die Berge
Das klingt bei Mischu Corpataux gänz ähnlich. Der Präsident des SAC Gantrisch kennt die hochalpine Flora und Fauna und weiss: «Eine Tour fängt mit der Planung an, man sollte etwas über das Gebiet lesen und sich ein Bild machen.» Natürlich, zum einen um sich, den Berg und die Tour aufeinander abzustimmen, aber eben nicht nur. Der Respekt vor der fragilen Natur über der Baumgrenze verpflichtet: «Wenn ich vom Ochsen zur Gemsflueh wandere und auf der Flanke eine Gruppe Gemsen sehe, dann ändere ich meine Route und passe mich der Situation an.» Der 52-jährige Bergsteiger aus Riffenmatt appelliert an das Bewusstsein der Naturliebhaber: «Man will in der Natur sein, aber gleichzeitig ist das Begehen der Berge immer auch eine Gefährdung und zwar für die Natur.» Es gibt Tiere, die man kaum sieht, ergänzt er, nachdem er wenige Wochen zuvor die seltene und bedrohte Aspis Viper zu Gesicht bekam. Auch im hochalpinen Raum gibt es Ruhezonen und Sperrgebiete, die überlebenswichtig sind, speziell im Winter. Nur reicht das?
Im Gegensatz zu Wald und Wiese, wo die Auswirkungen von «zu viel Mensch» erst auf den 2. Blick ersichtlich sind, leiden die hochalpinen Gebiete für alle ersichtlich. Gletscher schmelzen, die Berge fallen förmlich auseinander. Das Krachen der Steine, das Grummeln der Gletscher, es sind die Klagelieder der Berge, sie sind die Eichelhäher der Berge. «Wenn ich meine Karten aus den 1980er Jahren hervornehme, dann stimmt fast nichts mehr», erklärt er eindrücklich. Aus Respekt zur Natur und um die Gefährdung der Natur zu minimieren reist Corpataux meist mit dem Velo oder dem ÖV. Mehr noch, «es gehört Wissen dazu, wo ich entlanggehe. Wo liegen Steine, wo ist ein Firnfeld, wo liegen über mir Schneefelder», nennt er Beispiele, die in die Planung aufgrund der Situation in den Bergen einfliessen müssen.

Der Mensch
Waldmann Schär, Wildhüter Portmann, Biologe Märki und Bergführer Corpataux sind Experten in ihrem Gebiet. Vom Wald zu den Tieren bis zu den Bergen hat der Mensch die Aufgabe, sich anzupassen. Mit Respekt, mit Wissen und mit Verantwortung für sein Handeln. «Ich wünsche mir, dass die Menschen sich bewusst sind, was sie anrichten», fasst Corpataux zusammen. Portmann vergleicht: «Wenn wir bei jemandem zu Besuch sind, dann benehmen wir uns rücksichtsvoll und respektvoll, damit wir wieder einmal eingeladen werden. Genauso sollten wir unseren Besuch im Wald gestalten.» Schär nennt ein Beispiel: «Wenn ich eine Pflanze pflücke, muss es genügend andere davon haben, damit ich sie nicht dem Ökosystem entreisse.» Märki und seine gefiederten Freunde wünschen sich mehr Ruhezonen. Zwar gibt es diese von den hohen Bergen bis zum Sensegraben, nur dürfte dies allein nicht ausreichen. Eine Schwalbe macht bekanntlich noch keinen Sommer.
Markus Hostettler in Obergambach in Rüschegg hingegen ist einer, «bei dem es Sommer ist». Seit jeher brühten bei ihm auf dem Hof zahlreiche Schwalbenarten, mittlerweile verteilt auf 3 Gebäude. Sein Hof ist ein Zufluchtsort für die Schwalben und allemal einen Besuch wert. «Blütenpflanzen statt Geranien in den Blumentöpfen, Blumenrasen statt nur Rasen im Garten, die biologische Landwirtschaft unterstützen und vor allen Dingen eine Beziehung zur Natur mit all ihren Pflanzen und Tieren aufbauen», das sind die Wünsche des Biologen Hans Märki. Denn die Natur vor unserer Haustür ist allzu oft vom Menschen gestört und damit bedroht. «Wir sägen den Ast ab, auf dem wir sitzen», sagt Jürg Schär und erklärt: «Menschen sind Teil der Natur und, wenn wir uns nicht verbinden, entwurzeln wir uns.»
Wer weiss, vielleicht ist der Aufenthalt in der Natur das nächste Mal viel intensiver, wenn man sich als Teil der Natur versteht, atmet, riecht und einfach mal im Hier und Jetzt verweilt. Vielleicht sieht man dann vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr, dafür hört man aber den Waldlaubsänger. Der Eichelhäher verzichtet auf seine Warnung, weil er zufrieden feststellt: Diese Menschen sind hier nur zu Gast.

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