Wer heute einen Topf Spaghetti aufsetzt, denkt beim Hinzufügen von Kochsalz kaum an das Jod darin, und weshalb dies unsere Gesellschaft verändert hat. Bis vor rund hundert Jahren, als jodiertes Salz eingeführt wurde, waren nämlich Behinderungen wie Gehörlosigkeit in der Schweiz besonders verbreitet. Der Grund: Unsere Böden sind jodarm; das Schmelzwasser der Eiszeitgletscher hatte das Spurenelement ausgewaschen. In diesen Umständen lebte Anfangs des 19. Jahrhunderts Landvögtin Maria Salome Brunner-von Jenner in Bern. Zu dieser Zeit ermordete im Köniztal ein gehörloser Sohn im Affekt seine Mutter. Erschüttert davon gründete der damalige Burgerspitalverwalter die «Taubstummenanstalt Bächtelen» für hörbehinderte Knaben. «Damals galt zwar die allgemeine Schulpflicht, jedoch explizit für Normalbegabte ohne Behinderungen», erklärt Therese Zbinden. Sie ist Gesamtleiterin der Stiftung Salome Brunner. Diese ist über diverse Stationen aus der «Privat-Taubstummen-Anstalt für Mädchen», hervorgegangen, welche 1824, zwei Jahre nach der oben erwähnten Anstalt für Knaben, gegründet wurde.
«Bildung bewirkt etwas»
Jodmangel war nicht das einzige Übel, Inzucht zum Beispiel war ebenfalls verbreitet – und ebenso ein Risikofaktor für Hörbehinderungen. «Damals verband man das mit Dummheit», erzählt Zbinden. Sie seien der Gesellschaft zur Last gefallen und oft ihrem Schicksal überlassen worden. Salome Brunner und ihre Mitstreitenden waren motiviert vom aufklärerischen Gedanken, dass Bildung etwas bewirkt. Zudem spielten sicher auch sozial-christliche Werte mit hinein. Die Mädchen wohnten vor Ort, erlernten die Laut- und Schriftsprache, wurden in Handarbeit, Rechnen, Schreiben und Zeichnen unterrichtet und arbeiteten auf dem Feld sowie im Haushalt mit. Anfänglich zu acht in der Innenstadt, folgen mehrere Umzüge, bis nach hundert Jahren, 1924, das heutige Hauptgebäude in Wabern gebaut wurde. Erst jetzt schliefen die Lehrerinnen in Einzelzimmern und nicht mehr, durch einen Vorhang abgetrennt, im Schlafsaal der Schülerinnen.
Wohin geht die Bildung?
«Dank der medizinischen Entwicklung gingen Behinderungen rapide zurück. Wurden lange nur gehörlose Mädchen aufgenommen, waren ab 1941 auch sprachbehinderte Mädchen und Knaben zugelassen», so Zbinden. Zeitgleich wurde die Gesellschaft mehr und mehr für Menschen mit Behinderung sensibilisiert und das Schulsystem machte diesbezüglich Fortschritte. Als in den 1960er-Jahren die Eltern betroffener Kinder nicht mehr länger selber für die Finanzierung aufkommen mussten, sondern die IV übernahm, gab dies den Sonderschulen, heute besondere Volksschulen, richtig Aufwind. Dennoch: Noch bis vor zweieinhalb Jahren mussten Eltern von Kindern mit besonderem Förderbedarf selbst einen Platz in einer Sonderschule organisieren. «Diese Kinder galten offiziell als ausgeschult.» Erst mit dem Wechsel der Sonderschulen von der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion GSI zur Bildungs- und Kulturdirektion BKD änderten sich die Voraussetzungen. «Nun ist alles unter einem Dach, man kann voneinander profitieren», fasst es die Logopädin und Gesamtleiterin zusammen. Endlich, möchte man hinzufügen. Denn im Hinblick auf den Wechsel habe es einen Entwicklungsstau gegeben. «Nun stehen wir am Anfang einer neuen Entwicklung. Wohin soll die Bildung im Kanton gehen, wie stellt man bei so unterschiedlichen Anbietern die Qualität sicher? Wir als Institution finden es gut, dass solche Fragen nun im Gesamtkontext angeschaut werden.»
Hin zur Selbständigkeit
Die Sprachheilschule befindet sich am Standort der vormaligen Taubstummenanstalt an der Eichholzsstrasse. Es ist die einzige besondere Volksschule für kognitiv- und sprachbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche im ganzen Kanton. Entsprechend besuchen Schulkinder auch von weit her den Unterricht hier. Sie haben meist eine komplexe Sprachentwicklungsstörung. Das heisst, die Sprache ist auf mehreren Ebenen betroffen, etwa durch Lautverschiebungen (das Kind sagt «G» anstatt «T»), einem stark eingeschränkten Wortschatz und geringem Sprachverständnis. «Häufig fällt das Laien nicht auf den ersten Blick auf», so Zbinden, «die Kinder antworten irgendetwas, fühlen sich aber unverstanden.» Dazu kommt noch eine kognitive Einschränkung. Die meisten durchlaufen ihre ganze Schulkarriere hier. Das Team unterstützt sie bei der Berufswahl und Lehrstellensuche.
«Wir können etwas beitragen»
Zur Stiftung gehören die Heilpädagogische Schule Wabern sowie die Sprachheilschulen bzw. -klassen in Wabern, Langenthal, Biel/Bienne und Ins. In Wabern besuchen aktuell knapp 160 Schülerinnen und Schüler die Sprachheilschule. Am Morgen fahren jeweils 17 bis 20 Schulbusse vor, die Jugendlichen reisen selbständig an, und etwa 20 Kinder wohnen im Internat. Manche Gemeinden, darunter auch Köniz, haben eigene besondere Volksschulklassen eröffnet, bringen den heilpädagogischen Bereich noch näher zur Regelschule. Wird es die Stiftung Salome Brunner in weiteren 200 Jahren noch geben, wie sieht sie dann aus? «So weit hinaus ist es nicht möglich, Pro-
gnosen zu stellen», sagt Zbinden. Eines aber sei sicher: «Wir wollen gute Angebote für Kinder und ihre Familien bieten und nach vorne schauen.» Deshalb werde das 200-Jahre-Jubiläum auch nicht «historisierend» zelebriert. «Wir schauen lieber, wo es uns als Schule und als Inputgeberin heute braucht, und wo wir etwas zur Entwicklung beitragen können.» So wie Jod das Salz anreichert, soll somit auch die Bildung zu einer gesunden Gesellschaft beitragen.