Viele Diskussionen sind auf nationaler Ebene zum «Beizensterben» und deren Ursache zu hören, von Berufenen, aber auch von Besserwissern. Unbestritten ist: Einer der Erfolgsfaktoren der Schweizer Gastronomie ist seit jeher die Innovation. Grosse Hoteliers und weltbekannte Köche mit Schweizer Wurzeln gab und gibt es viele, mit immer neuen Versuchen, die Messlatte noch höher zu legen.
Vorteil: Teams und Gäste
«Die Schweiz braucht innovative Ideen, um ihre Mitarbeitenden zu fördern und sich von anderen Konkurrenten im Markt abzusetzen.» Der dies sagt, ist Thomas Christen, Mitglied der Geschäftsleitung im Landhaus Liebefeld und Projektleiter von «Das Experiment». Mit einem aufwändigen Projektmanagement wurden deshalb Landhaus-Mitarbeitende der Küche geschult, sich während zehn Tagen im Service zu engagieren – und umgekehrt. Konkret: Vom 4. bis 14. Mai.
Thomas Christens Zielsetzung: «Das eine Team sollte die Herausforderungen der anderen Equipe eins zu eins kennenlernen, damit in Zukunft eine noch bessere Zusammenarbeit möglich ist, zum Vorteil des Betriebsklimas und zum Vorteil unserer Gäste.» Abgesehen davon: Für einmal bekamen regelmässige Kundinnen und Kunden des «Landhaus» jene Fachleute zu sehen, die normalerweise dafür verantwortlich sind, was ihnen auf den Tellern serviert wird. Diese Zeitung porträtiert zwei der vielen Mitarbeitenden, die an diesem Experiment teilgenommen haben.
Von Kopenhagen ins Liebefeld
Alexander Bürdel, 31, ist einer der Köche, die in den Service gewechselt haben. Aber nicht nur das: Er musste Reservationen entgegennehmen, Menü- und Weinempfehlungen abgeben, die Betreuung der Gäste sicherstellen, die Hotelzimmer abrechnen und, und, und… Sein bisheriger Lebenslauf ist alles andere als 08/15: Gymnasiast, Student der Geschichte und Geografie, kurz vor Abschluss Abbruch der Übung, um aus privaten Gründen drei Jahre nach Kopenhagen zu gehen. Dort wurde er Mitarbeiter in einer Software-Onlinefirma mit der Einsicht, dass es ohne wirklichen Berufsabschluss für seine spätere Zukunft «nichts wird». In Bern lässt er sich deshalb zum Koch ausbilden, seit vergangenem Jahr wirkt er zwischen Töpfen und Pfannen im Landhaus. «Ich liebe diesen Job, zumal ich wirklich kreativ tätig sein kann», sagt er mit hörbarem Stolz. Und was erwartet er von der Jobrotation? «Service und Küche haben verschiedene Betriebsabläufe, wobei bei beiden der Gast im Zentrum steht. Nur: Wie bringt man alles unter einen Hut, unter einen… Kochhut?» Gespannt sei er zum Beispiel, wie er reagieren wird, wenn ein Gast kurzfristig sein bereits in der Küche in Auftrag gegebenes Menü ändere, im Unwissen, dass er deshalb die Küche ganz schön «ins Rotieren» bringt…
Von Seattle ins Liebefeld
Irren ist menschlich, was den Lebenslauf von Celina Wagner anbelangt, auszubildende Res-
taurationsfachfrau. Obwohl erst 19 – und die Abschlussprüfung vor Augen – hat sie bereits mehr erlebt als viele ältere Zeitgenossen. Geboren und bis zum zehnten Altersjahr gelebt in
Seattle, weil ihr Vater dort bei einer berühmten Firma angestellt war. Nein, für einmal nicht bei Boeing, sondern bei Microsoft. Die heute 19-Jährige kommt in die sechste Klasse in Liebefeld, spricht perfekt Amerikanisch und «Bärndütsch», nicht aber Hochdeutsch. Sie versteht lange Zeit nicht, was in der Klasse gerade vermittelt wird, wird gehänselt, schafft aber den Anschluss dank eisernem Willen und einem zehnten Schuljahr, seit 2012 ist die «toughe» Celina in der Restauration ein sicherer Wert. Kommt ihr dabei die Doppelbürgerschaft zugute? Sie schmunzelt: «Ja, gewiss, beide Länder haben Positives und weniger Positives. Ich verbinde einfach die guten Elemente miteinander.» Mit Erfolg. Auch Celina Wagner ist – ähnlich wie Alexander Bürdel – gespannt, wie sie zum Beispiel reagieren wird, wenn die Küche schneller als der Service arbeitet und Mahlzeiten noch ihrer Bedienung warten (weil im Landhaus gerade full house und der Service zu 101% beschäftigt ist).
Tag X: Montag, 4. Mai
«Zugegeben, ich habe von Sonntag auf Montag kaum geschlafen», sagt Thomas Christen, «hatte plötzlich Respekt vor dem eigenen Mut, aber irgendwie hat es am ersten Tag geklappt», ergänzt er mit einem Schmunzeln.
Diese Feststellung – «irgendwie hat es geklappt» – zieht sich wie ein roter Faden durch das Experiment und basiert nicht auf einer Aneinanderreihung von Zufällen. Dass «es» geklappt hat, ist auf zwei Gründe zurückzuführen: Einerseits auf die professionelle Vorbereitung und, auf der anderen Seite, auf die Motivation aller Mitarbeitenden, «es» schaffen zu können. Und «es» auch schaffen zu wollen.
Mit dem guten Beispiel voran
Logisch: Jeweils ein Fachmann blieb bei seinem angestammten Beruf: Der Küchenchef und der Chef de Service, sozusagen als Kontollinstanzen, damit alles mit der «fremden Truppe» klappt. Auch der Initiant des «Experiments» nahm sein Gastspiel an, nämlich als Entremetier: In dieser Funktion war Thomas Christen in der Küche für warme Zwischengerichte (z.B. Suppen oder Spargeln) sowie für das Gemüse und die Beilagen zuständig. Unterstützt wurde er übrigens von einem weiteren Mitglied der Geschäftsleitung, von Francis Nova als Saucier, für zehn Tage Herr über das Fleisch und die Saucen. Auch für diese beiden Herren war der Jobtausch eine echte Bereicherung. Der Platz in diesem Bericht reicht nicht aus, um ihre Erfahrungen wiederzugeben. Wie aber haben nun Celina Wagner und Alexander Bürdel diese Tage erlebt? Ladies first.
Köche stehen früh(er) auf
«Mir fehlte zu Beginn vieles an Fachwissen, das ich mir in diesen zehn Tagen auch nicht vollständig aneignen konnte», lacht Celina Wagner, «aber ich überlege mir ernsthaft, im Sinne der beruflichen Weiterbildung für längere Zeit in der Küche zu arbeiten.» Sie sagt auch, dass dieses «Experiment» für ihre im Sommer anstehende Lehrabschlussprüfung «genial» war, sie verstehe jetzt viele Zusammenhänge dank ihres «learning by doing», zum Beispiel über die verschiedenen Garmethoden. Romanesco und Broccoli habe sie im ersten Anlauf verkocht, «aber nun können Sie mir vertrauen, zwei Minuten reichen, um diese beiden Gemüse zu blanchieren.» Das
Schwierigste, so denkt sie laut nach, «war das frühe Aufstehen, denn die Köche sind logischerweise vor dem Service an ihrer Arbeit.»
Ein echter Kundenberater
Auch Alexander Bürdel möchte diese einmalige Erfahrung nicht missen. «Ich hatte von Anfang an grossen Respekt vor der Aufgabe, denn als Service-Mitarbeitender ist man eigentlicher Gastgeber, der erste Kontakt zu den Gästen.» Mit jedem Tag wurde der Freiburger im Auftreten sicherer, «was aber nicht heisst, dass ich nicht permanent dazu gelernt hätte». Geholfen hätten ihm im Service seine Kenntnisse in Bezug auf Lebensmittel: «Viele Gäste waren über mein Fachwissen überrascht, liessen sich auch beraten.» Der berufliche Seitenwechsel habe ihm aufgezeigt, dass es in der Küche grosses Verständnis für den Service brauche, «denn schliesslich ist der Gast unser aller Mittelpunkt, auch, wenn er gewisse Betriebsabläufe in der Küche ins Wanken bringt». Als Beispiel nennt er jene sechs Herren, die kurz vor «Küchenschluss» ins Restaurant kamen und sechs verschiedene Speisen bestellten. «Da kann man ihnen ja nicht sagen, es wäre für die Küche aber einfacher, wenn man sich auf eine einzige Speise einigen würde…»
Fazit des Rollenwechsels? Ein Erfolg, von A bis Z. Der riesige Aufwand, vor allem aber die Zufriedenheit der Gäste und der Mitarbeitenden haben sich gelohnt, kein Wenn, kein Aber. Und was meint Landhaus-Inhaber Jos De Wolf dazu? Die zufriedenen Gesichtszüge und sein Kopf-
nicken in Richtung seiner beiden Kaderleute sagt mehr aus als alle Worte.