Im Tram telefoniert ein schwarzer Mann mit erhöhter Lautstärke in seiner Landessprache. Noch lauter macht sich ein älterer Herr bemerkbar: «Ha, der kann ja nicht mal deutsch! Solche Profiteure unseres Systems sollte man gleich wieder nach Hause schicken!» Gut, dass in dieser Situation Lukas Picozzi (28), Sozial- und Jugendarbeiter der Reformierten Kirche Ostermundigen, anwesend war. Er hatte den Mut, den offensichtlich frustrierten Mann anzusprechen: «Sie, worüber regen Sie sich eigentlich so auf?» Dieser begann zu erzählen und Lukas Picozzi hörte ihn an. Mehr und mehr rückten Themen aus der Biografie des alten Mannes ins Zentrum des Gesprächs. Die Lage entspannte sich.
Eigene Schattenseiten erforschen
Lukas Picozzi erklärt, dass aus Konfliktsituationen viel gelernt werden kann. Zu diesem Zweck hat der gelernte Sanitärmonteur und Sozialpädagoge mit seinen drei Freunden Melvin Hasler, Alessandro Bertone und David Kempter den Theaterverein «Zuvielcourage» ins Leben gerufen. «Durch das Theaterspielen kann man andere Perspektiven einnehmen und so die Empathiefähigkeit steigern. Zudem erforschen wir auf spielerische Art die eigenen Schattenseiten», sagt Picozzi. Das hauptsächliche Tätigkeitsfeld des Vereins ist die Durchführung von Theatertrainings, die allen Interessierten offenstehen. Daneben organisieren die vier jungen Herren auch Mitarbeitertage in Schulen und Jugendheimen. Schliesslich liessen sich die Theaterfreunde für Einzeleinsätze auch «mieten», sagt Picozzi. Die PHBern etwa engagierte sie für die Abschlussprüfung in Konfliktmanagement. Und als das Schweizerische Rote Kreuz anfragte, ob sie an einer Veranstaltung zum Thema «Rassistische Diskriminierung in Spitälern» auftreten wollten, haben sie ebenfalls gerne zugesagt.
Wegschauen oder eingreifen?
Es gibt im öffentlichen Raum immer wieder Situationen, in denen man Zeuge von Ungerechtigkeit oder Gewalt wird. Es stellt sich die Frage: Schaue ich weg oder greife ich ein? Im Kirchgemeindehaus Wabern findet am
12. September ein Kursabend zum Thema «Zivilcourage» statt, der diese Frage ins Zentrum stellt.
Das Kursangebot organisiert die Kirchgemeinde Köniz gemeinsam mit der «Fachstelle Prävention, Kinder und Jugendarbeit» seit über fünf Jahren. Mit von der Partie ist jeweils auch die Theatergruppe «Zuvielcourage». Die Teilnehmenden können anhand von improvisierten Szenen ihre Sozialkompetenz und ihr Repertoire an Handlungsoptionen erweitern. Es geht darum, Hemmschwellen und Ängste abzubauen und sich für Gerechtigkeit einzusetzen. «Das Theaterspiel als Übungsfeld hat sich als sehr wirksam erwiesen», sagt Picozzi. «Wenn auch die Szenen in einem geschützten Rahmen stattfinden, die Gefühle sind trotzdem echt.» Der Name des Vereins wirft unweigerlich die Frage auf: Kann man zu viel Zivilcourage haben? «Ja, ganz klar. Es kann gefährlich werden, wenn man über seine eigenen Grenzen hinaus anderen Menschen in Konfliktsituationen helfen möchte. Auch wenn sich in vielen Fällen eine Intervention empfiehlt, ist es manchmal besser, die eigenen Kapazitäten zu kennen und zu berücksichtigen.»
«Wir sprengen gewohnte Muster»
Das aktuelle, eigene Projekt des Theatervereins startete bereits Mitte August. Dieses wöchentlich in Wabern stattfindende Theatertraining steht unter dem Motto «bewusst handeln». Durch spielerische Improvisations-Variationen entsteht in einer ersten Phase die Gruppendynamik. «Das gegenseitige Vertrauen ist grundlegend, denn Theaterimprovisation bedeutet auch Selbst-
offenbarung», erklärt Lukas Picozzi.
Im zweiten Teil vermitteln die Gruppenleiter verschiedene Theaterformen wie etwa das klas-
sische Theater, Performance oder das soziale Forumtheater nach Augusto Boal. Picozzi ergänzt: «Wir berücksichtigen stark die Bedürfnisse und Wünsche der Teilnehmenden. Wir durchleuchten Gefühlswelten, hinterfragen gesellschaftliche Phänomene, sprengen gewohnte Muster und geniessen dabei die Narrenfreiheit der Bühne.»


