Die Bezeichnung «Tschernobyl» ist eigentlich falsch, richtig sollte es «Pripyat» heissen. Als der Bau der Atomanlage in Angriff genommen wurde – sie sollte die grösste der Welt werden, mit insgesamt zwölf Reaktoren – war Tschernobyl der nächstgelegene Ort, deshalb der Begriff. Parallel zu den KKW wurde die Retortenstadt Pripyat aus dem Boden gestampft, in nur knapp drei Kilometer Entfernung. Pripyat ist denn heute auch absolute Sperrzone, ohne einen einzigen Bewohnenden, in Tschernobyl hingegen gibt es eine Art temporäres «Leben», vor allem durch die über 1000 Menschen, die nach wie vor in den längst stillgelegten AKW-Anlagen mit den verschiedensten Arbeiten beschäftigt sind. Sie alle wohnen aber nicht dauerhaft in der Kleinstadt.
Test wird zum GAU
Allein über den Hergang des Unfalls liessen sich hier viele Seiten füllen, deshalb nur in Kurzform: In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 wurde Reaktorblock 4 für bevorstehende und vorgesehene Inspektionsarbeiten «heruntergefahren». Diese Ausgangslage wollte man dazu nutzen, um vorher «husch» noch eine nicht programmierte Übung durchzuführen. Einzig dieser misslungene Test – gekoppelt mit menschlichem Versagen – führte schliesslich zur Katastrophe um 01:24 Uhr Lokalzeit, als der gewaltige Druck mit Temperaturen über 3000 Grad nach diversen nicht mehr kontrollierbaren Kettenreaktionen das Dach des Reaktors wegsprengte, wodurch radioaktives Material bis auf eine Höhe von einem Kilometer unkontrolliert in die Luft gelangte. Und das während Wochen. Von den übrigen tödlichen Emissionen aus der Ruine ganz zu schweigen.
Weitere Katastrophe verhindert
Weil sowohl die Atomanlagen – Reaktoren 5 + 6 waren bereits im Bau, stehen heute als Mahnmal herum – als auch Pripyat Vorzeigeorte der UdSSR waren, wurde die Katastrophe während über 48 Stunden verschwiegen, selbst der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michael Gorbatschow, erfuhr es nach eigenen Angaben erst drei Tage nach dem GAU, über Umwege aus… Schweden. Das bedeutete auch, dass die Behörden in Pripyat und Tschernobyl den Ernst der Lage verkannten und bewusst herunterspielten. Dass die Explosion das Dach wegsprengte, kann – wenn der Ausdruck überhaupt statthaft ist – als Glück bezeichnet werden, denn hätte der Druck im Innern den angebauten Reaktor 3 ebenfalls explodieren lassen, wären heute grössere Regionen in Europa unbewohnbar. Man stelle sich das lieber nicht vor.
Der Boden als Problem
«Wie kann eine Stadt unbewohn
Der Boden als Problem
«Wie kann eine Stadt unbewohnbar bleiben, du aber konntest sie besuchen – da stimmt doch was nicht…», meinte ein Bekannter.Gute Bemerkung, die aber leicht zu beantworten ist. Der dieses Jahr über die Havarie gestülpte Sarkophag verhindert zwar (hoffentlich) das Austreten von Radioaktivität in die Luft. Die Böden aber bleiben auf ewig mit Plutonium 239, Cäsium 137 und Strontium 90 belastet (ganz zu schweigen von den 190 Tonnen mit schwerst radioaktivem Material im Inneren des Sarkophags, die nicht entsorgt werden können und in Zukunft weitere schwere Umweltschäden anrichten werden). Diese Schwermetalle sinken im Laufe der Zeit immer tiefer ins Erdreich. Ein Besuch ist einzig mit örtlichen «Reiseleitern» möglich, es gibt bis nach Pripyat drei «scharfe» militärische Kontrollen. Besucher dürfen deshalb die vorgeschrieben Pfade nicht verlassen, dürfen nichts vom Boden aufheben, die benutzten Schuhe wirft man nach dem Besuch am besten gleich weg.
Völlig überfordert
Die 48 Stunden unmittelbar nach der Explosion müssen im Nachhinein als weitere Katastrophe bezeichnet werden, als eine Mischung aus Überforderung, Hilflosigkeit und behördlicher Arroganz. Der Vorfall wurde her-
untergespielt, die Bevölkerung von Pripyat z.B. bewusst im Unklaren gelassen, erst 36 Stunden nach der Explosion innerhalb von drei Stunden evakuiert und vorerst in die Region Kiew gefahren: 45’000 Leute in 1000 Bussen, die meisten Menschen bereits unheilbar kontaminiert. Schwangere drängte man zur Abtreibung, Tausende von Arbeitern zwang man, bei der Bewältigung der Katastrophe zu helfen, obwohl ungenügend geschützt. Einzig diesen Männern ist es auch zu verdanken, dass Reaktorblock 3 in den folgenden Wochen nicht doch noch explodierte. Ihnen, als «Liquidatoren» bezeichnet, bleibt nach ihrem Tod nur eines: ein Denkmal. Um die Fotos sprechen zu lassen, verzichte ich auf weitere Worte. Wenn es Sie interessiert: Auf Youtube sind einige interessante Dok-Filme zu sehen. Suchbegriff «Pripyat».
Fazit dieser Reise: Ich bin kein Gegner von Atomstrom. Dennoch hinterlassen die Bilder aus Pripyat ein ungutes Gefühl. Gegen die Abschaltung des KKW Mühleberg Ende 2019 werde ich, in jener Gegend wohnhaft, jedenfalls nicht protestieren.