Eigentlich hatte die Flagge des Vietcong am Berner Münsterturm nichts zu suchen. Auch lange Männerhaare waren eine Provokation, Frauen hatten keine politische Gleichberechtigung und Homosexuelle waren polizeilich registriert. Dazu schrieb das Jahr 1968 prägende Kapitel in der Geschichte: der Vietnamkrieg war auf dem Höhepunkt, ebenso die Rassenunruhen in den USA und der kalte Krieg. Kaum drangen Nachrichten über Revolten in Paris, Berlin oder aus dem fernen Kalifornien zu uns, hing sie schon am Münster, die besagte Flagge. Und die Pille, Sinnbild der sexuellen Befreiung, war nicht aufzuhalten. Jugendliche suchten nicht weiter nach Anerkennung in der Generation ihrer Eltern. Sie suchten ihren eigenen Weg. Die 68er-Bewegung erfasste also auch das kleine Bern. Zwar kein Globus-Krawall wie in Zürich, aber doch eine Bewegung, die sich rasch organisierte und sich deutlich bemerkbar machte. Seither ist ein halbes Jahrhundert verstrichen. Lässt die Neigung des Menschen, Rückblicke auf vergangene Ereignisse verklärend darzustellen, eine objektive Betrachtung überhaupt zu? Für die einen sind die 68er auch heute noch schuld an jedem Übel. Für die anderen steht dieses turbulente Jahr für den Aufbruch hin zu einer gerechteren Gesellschaft. Die Antworten auf die Bedeutung von 1968 könnten unterschiedlicher nicht sein. Dass 1968 der Höhepunkt eines tief greifenden gesellschaftlichen Umbruchs darstellte, ist jedoch unbestritten.
Rückblicke mit Selbstkritik
Die Herausgeber von «Revolte, Rausch und Razzien» erheben nicht den Anspruch, schlüssige Antworten zu geben. Dafür gewähren die 19 porträtierten, ehemaligen Aktivisten persönliche, auch selbstkritische Einblicke. Kritisiert wird etwa das Macho-Gehabe vieler Männer der 68er-Bewegung. Die Idee zum Buch stammt von einer Frau. Heidi Kronenberg ist eine der Herausgeberinnen und Mitautorin. «Gerade weil die 68er-Bewegung eine Männerdomäne war», sagt sie, «wollen wir im Buch den Frauen eine Stimme geben. Denn die Frauen waren da. Leiser, weniger missionarisch, dafür stark von der eigenen Betroffenheit geprägt.» Auch die Lesung in der «Schublade» ist weiblich geprägt. Die beiden Betreiberinnen Violeta Wiedmer und Conny Capun kennen den typischen Werdegang als Mütter: zuerst Kind und Familie, erst dann Berufstätigkeit. Die Freiräume nutzten sie zur Gründung ihres Geschäftes in Köniz, nachdem die dortige Papeterie geschlossen wurde. Ihr Wunsch war eine Alternative mit Herz, die «Schublade» sollte mehr als ein Geschenklädeli sein. Das wurde sie denn auch, Ideen von aussen sind willkommen und werden unterstützt. Die Generation 1968, finden die beiden Betreiberinnen, habe den Frauen erst ermöglicht, ihre Flügel zu öffnen. Nach fünf Jahren Geschäftstätigkeit wollen sie nochmals richtig loslegen. In der Hoffnung, dass junge Frauen und Männer künftig gemeinsam abheben.
1968 und die Frauenbewegung
Und schliesslich passt auch Barbara Gurtner als Teilnehmerin und Diskussionspartnerin zum Anlass. Ihr Porträt aus dem Buch wird vom Verfasser Bernhard Giger gelesen. Mehr als das ewige Herumtheoretisieren der Männer in der Bewegung hätten sie die feministischen Diskussionen interessiert, ist von der ehemaligen National- und Grossrätin zu lesen. «Das Erkennen der eigenen Betroffenheit hat mich politisiert.» Die Frauenbewegung sei laut und schrill und grell gewesen, was ihr gefallen habe. Das prägt sie bis heute; die Tabubrecherin setzt sich unermüdlich für Frauenrechte und Gleichstellung ein. Die Erwartungshaltung an junge Frauen vor 50 Jahren war auch die Motivation für Heidi Kronenberg, sich politisch zu engagieren. «Es war nötig», sagt sie, «denn ab dieser Zeit entwickelte sich bei mir und vielen jungen Frauen das Bewusstsein, eine eigene Meinung zu haben.»