Unter dem Begriff Demenz versteht man zirka 50 verschiedene Krankheitsformen, bei denen Hirnfunktionen wie das Denken, die Orientierung, die Erinnerung, das Gedächtnis und die Sprache betroffen sind. Die Alzheimer-Demenz ist die weitläufig häufigste Form und betrifft 50% aller Fälle. Bei unter 60-Jährigen wird die Krankheit selten diagnostiziert; allerdings verdoppelt sich die Zahl der Erkrankungen mit zunehmendem Alter ungefähr alle fünf Jahre. Die Lewy-Body-Demenz ist die zweithäufigste Form und kann Menschen schon in den Fünfzigern treffen. Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsstörungen, Orientierungslosigkeit, Halluzinationen und motorische Störungen sind erste Anzeichen. In der Schweiz leben schätzungsweise 119’000 Personen mit Demenz. Jährlich kommen etwa 400 Neuerkrankungen dazu. Die Lebenserwartung nach der Diagnose beträgt durchschnittlich noch acht bis zehn Jahre. Unsere Gesellschaft ist auf die stetig steigenden Zahlen kaum vorbereitet. Auch Demenzkranke haben ein Recht auf Leben und Integration.
Loslassen
Für Irene Bopp-Kistler ist die Beratung der Angehörigen genauso wichtig wie die therapeutische und interdisziplinäre Arbeit mit den Demenzkranken. Erste Anzeichen einer Demenzerkrankung sind für Betroffene sehr belastend. Der stetige Kampf, die Symptome vor anderen zu verstecken, ist zermürbend. Oft kommen sie in Erklärungsnotstand und ziehen sich deshalb vom sozialen Leben zurück, wollen allein sein, sind antriebslos und verleugnen die Krankheit. «Es ist wichtig, das Thema anzusprechen. Man soll nicht über die Kranken, sondern mit ihnen sprechen», erklärt Bopp-Kistler. Im Verdachtsfall können Angehörige beispielsweise mit Sätzen wie «Ich mache mir Sorgen» oder «Etwas hat sich verändert, deshalb gehen wir jetzt zum Arzt» geschützten Zwang ausüben, etwas zu unternehmen. Muss die Fachärztin die Diagnose stellen, tut sie dies immer im Beisein der Angehörigen. Betroffene und deren Familien sind meist wütend und traurig. Das Leben A geht zu Ende. Sind die Symptome einmal eingeordnet, beginnt das Leben B auf einer neuen Ebene. Ein Abschied in Raten beginnt; beide Seiten müssen lernen, loszulassen. «Betreuende und Ehepartner sollen sich unbedingt Auszeiten nehmen», rät das Mitglied zahlreicher Fachgremien. «Schuldgefühle sind fehl am Platz, denn irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo sich Alzheimer-Patienten in einem Pflegeheim besser aufgehoben fühlen als zu Hause.
Demenz hat viele Gesichter
Helga Rohra, die mit ihrem autistischen Sohn zusammenlebt, erhielt ihre Diagnose 2008: «Sie haben Lewy-Body-Demenz und in ein paar Jahren werden Sie wahrscheinlich an Parkinson erkranken.» Sie, die Wortgewandte – sie spricht neun Sprachen und arbeitete als freiberufliche Simultanübersetzerin – die Intellektuelle, Belesene – sie war auch politisch aktiv – hatte plötzlich Mühe, die richtigen Wörter zu finden. Sie konnte sich nicht mehr an kürzlich Vergangenes erinnern und durchlebte optische Halluzinationen, während denen sie in ihre Kindheit zurückversetzt wurde. Sofort begann sie mit dem Verfassen eines Ausfalltagebuchs, notierte Begebenheiten und Gefühle. «Es kann jeden treffen und dafür muss man sich keinesfalls schämen!», sagt die heute 63-Jährige vehement. Nach der Diagnose legten Hausarzt und Therapeutin mit ihr zusammen eine ganzheitliche therapeutische Behandlung fest, mit der sofort begonnen wurde. Helga Rohra zeigt sich kämpferisch und authentisch, kennt keine Berührungsängste und nennt die Dinge beim Namen. Sie reist zu internationalen Kongressen und setzt sich für mehr Toleranz und Integration von Demenzbetroffenen ein. Rohra ist allerdings kein Durchschnittsbeispiel einer Betroffenen. Ihr wacher Geist kommt ihr im Kampf gegen die Nebelwolke zugute. Täglich übt sie Sprechen und Aussprache und Schreiben von Hand, denn mit dem Computer klappt es nicht mehr. Sie fokussiert sich einfach auf das, was sie noch kann und trauert nicht um das Verlorengegangene.
Alles, was dem Herzen gut tut
«Ich bin da, ich bin etwas wert.» Jeder Demenzkranke sollte jene individuelle Therapie fordern können, die ihm gut tut. Viele Betroffene stehen noch im Berufsleben und könnten noch arbeiten. Doch es fehlt an Zeit, Geld und Platz, um jenen Menschen eine sinnvolle Beschäftigung ohne Leistungsdruck anbieten zu können. «Die Alzheimer-Gesellschaften müssen kämpfen und als erstes die Politik angehen. Es braucht dringend mehr innovative Projekte und entsprechende Einrichtungen», sind sich die beiden engagierten Frauen einig. Ja zum Leben – trotz Demenz; denn es kann jeden treffen. Auch im Alter immer wieder etwas Neues entdecken – Tanzen und Musik, vielleicht ein Instrument erlernen – stimuliert Kopf und Gemüt, tut gut und wirkt im besten Fall präventiv.