Digitalisierung könnte Bergdörfer retten

Digitalisierung könnte Bergdörfer retten

Bis 2050 dürften die Alpen den Alten gehören, schreibt die NZZ, nachdem die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Berggebiete (SAB) die neusten Zahlen und Fakten veröffentlicht hat. Stimmt diese Annahme und sind davon auch Gemeinden unserer Region betroffen?

In den vergangenen 10 Jahren hat die Schweizer Bevölkerung um rund 750’000 Menschen zugenommen. Gewachsen sind Städte und Agglomerationen. Randständige Gemeinden hingegen schrumpfen. «Wir erkennen aufgrund der verfügbaren Daten und Publikationen mancherorts eine Abwanderung vom Land in die Stadt, vornehmlich bei den Jugendlichen. Die Bevölkerung in entlegenen Orten wird also immer älter», bestätigt Maria-Pia Gennaio vom Bundesamt für Raumentwicklung ARE. Eine Tendenz, die Gemeinden wie Guggisberg, Wald, Rüeggisberg oder Rüschegg kennen dürften. Die Ist-Situation greift allerdings zu kurz. Bei genauerer Betrachtung eröffnen sich Gegentendenzen und Chancen für die Randgebiete.

Es gibt keine Landflucht
Allein schon der Begriff «Flucht» erinnert eher an ein Massenphänomen, was der Situation nicht entspricht. «Ich wehre mich gegen diesen Begriff, denn 75% der Jugendlichen wollen wieder in ihre Heimat zurückkehren, nachdem sie diese wegen der Ausbildung verlassen mussten. 50% kommen tatsächlich wieder», verweist Thomas Egger auf eine Umfrage, welche die SAB 2014 lanciert hat. Der Alt-Nationalrat und Direktor der Arbeitsgemeinschaft für Berggebiete denkt positiv: «Diese Zahlen zeigen, dass ein Wille da ist. Die Frage ist also, was man tun kann, damit die Jugendlichen zurückkommen.» Hierzu hat die SAB bei den Jugendlichen nachgefragt und 3 Kernpunkte herausarbeiten können: interessante Freizeitmöglichkeiten, Erreichbarkeit und genügend Mietwohnungen.

Freizeitmöglichkeiten
«Das Bedürfnis nach sozialem Austausch und aktiver Beteiligung ist bei jungen Menschen stark ausgeprägt», weiss Egger und empfiehlt: «Die Gemeinden sind gut beraten, wenn sie den Jugendlichen funktionierende Rahmenbedingungen anbieten.» Ein Beispiel aus Veysonnaz zeigt die Dynamik dieser Integration. Im Walliser Dorf haben die Jungen die Touristenführungen übernommen, veranstalten Kinoabende und beteiligen sich an der Mithilfe für ältere Menschen. Die SAB zeichnet solche Gemeinden mit dem Label «Jugendfreundliche Bergdörfer» aus. Eine Ehre, die unlängst der Gemeinde Plaffeien zuteil wurde. Ansonsten blieb unsere Region bis dato weitgehend «verschont» von solchen Preisen. Ein Hinweis, dass die Integration der Jugendlichen mancherorts noch forciert werden könnte.
Erreichbarkeit
Die Gesellschaft ist mobil, junge Menschen ganz besonders. Ein gutes ÖV-Netz ist deshalb von zentraler Bedeutung. «Es gehört eigentlich zur Grundversorgung. Wenn das Netz weiter ausgedünnt wird, erhalten die Gemeinden ein Riesenproblem», nimmt Egger kein Blatt vor den Mund. Auch hier gibt es Randgebiete, die bereits aktiv geworden sind. Im Safiental im Kanton Graubünden erhalten die Jugendlichen ein Gratis-Generalabonnement, um mobil zu sein, weniger vom Eltern-Taxi abhängig zu sein und das vorhandene Netz zu nutzen. Um solche Anreize zu schaffen, gibt es einen politischen Spielraum. «Wir müssen uns dafür einsetzen, dass eine attraktive Mobilität gewährleistet werden kann. Die raumplanerische Herausforderung ist, dünnbesiedelte Gebiete gut zu erschliessen», weiss Jean-François Steiert. Der Staatsrat des Kantons Freiburg ist zugleich Präsident von Espace Suisse, dem Think Tank für Raumplanungs- und Umweltfragen. In diesem Kontext laufen im Moment viele Experimente, wie etwa Rufbusse im Appenzellischen unter der Leitung von PostAuto, beobachtet Gennaio im Rahmen ihrer Arbeiten in der Sektion Siedlung und Landschaft im ARE.
Erreichbarkeit geht zudem einher mit dem Arbeitsmarkt. «Je besser ausgebildet die Menschen sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass ihr Arbeitsort in einer Stadt oder Agglomeration liegt», weiss Steiert. In gewissem Mass kann die Politik gegensteuern, aber es wäre eine Utopie zu glauben, dass sich beispielsweise Google in Guggisberg niederlassen würde.

Mietwohnungen
Ein weiterer Grund für fehlende Rückkehrer nach der Ausbildung liegt im Wohnungsmarkt. «Wir haben oft mehr Eigenheime als Mietobjekte in den entlegenen Gebieten», sagt Egger und fordert die Gemeinden auf, aktiv zu werden. Etwa indem man selber Liegenschaften kauft, Wohnungen ausbaut und vermietet. Denn generell gibt es zu wenig Mietwohnungen in ländlichen Gemeinden. Ferner müssen diese bezahlbar sein, damit sie für Jugendliche attraktiv sind. «Die Wohnraumförderung ist städtisch ausgelegt, der Bund ist da in der Pflicht», verweist Egger auf eine hängige Motion im Parlament, aber auch auf die Problematik hin, dass Umnutzungen in der Landwirtschaftszone nicht immer ganz einfach zu realisieren sind. Wenn beispielsweise Rüschegg ein Bauernhaus kaufen würde und den Ökonomieteil zu weiteren Wohnungen ausbauen würde, müsste der Regierungsstatthalter dieses Unterfangen bewilligen, weil sich solche Liegenschaften in aller Regel in der Landwirtschaftszone befinden und solche Ausbauten nicht zonenkonform wären. Aber solche Bemühungen sollten aus der Sicht von Steiert ermöglicht werden: «Viele Menschen wollen gerne ländlich wohnen und diese Vorzüge geniessen. Man darf bei der Planung aber nicht vergessen, dass sie in der Regel auch auf eine gute Distanz zur Arbeit achten.» Gibt es demnach eine Gegentendenz zur Abwanderung? Vielleicht auch gerade, weil die Preise ausserhalb der Zentren insgesamt günstiger sind?

Digitalisierung als Vorteil
«Statistisch lässt sich dies im Moment noch nicht nachweisen», gibt Gennaio Auskunft und präzisiert: «Aber auch wir hören von solchen Fallbeispielen.» Für Egger ist klar, dass es immer Wellenbewegungen gibt, wohin die Bevölkerung tendiert. «Wenn mehrere Probleme der entlegenen Gemeinden angepackt werden, dann könnte sich sogar eine Trendwende abzeichnen», gibt er sich zuversichtlich. Das Reizwort «Digitalisierung» kommt ins Spiel. Für die einen ein Schreckensgespenst mit weniger Jobs, für die anderen eine Chance. «Corona hat die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten, beschleunigt», nennt Egger ein Vorteil der Digitalisierung. Denn die Schweiz ist in der glücklichen Lage, dass das Internet auch im hintersten Winkel verfügbar ist. Gennaio geht noch einen Schritt weiter: «Digitalisierung hilft auch, um zwischen den Gemeinden Synergien aufzubauen und somit die Grundbedürfnisse abdecken zu können.» Wie das funktionieren kann, ist gegenwärtig Bestandteil des Programms Modellvorhaben nachhaltige Raumentwicklung des Bundes. Ein Beispiel unserer Region ist etwa das Altersnetzwerk Gantrisch, welches sich im Aufbau befindet und 11 Gemeinden umfasst.

Zukunftsmusik
Die SAB ist mit dem «Smart-Village-Ansatz» dabei, die digitale Erschliessung zu nutzen, und berät die Gemeinden, wo das entsprechende Potential liegen könnte. So sind die Nachteile einer entlegenen Gemeinde plötzlich Vorzüge, ganz nach dem Motto: dort wohnen, wo andere Ferien machen. Ein Ansatz, der funktionieren kann, wenn die Gemeinden ihre Erreichbarkeit sicherstellen, für genügend Mietwohnungen sorgen und die Grundversorgung durch Synergien mit benachbarten Orten sicherstellen. In einem solchen Kontext gelänge es vielleicht auch der Politik vermehrt, Firmen anzulocken, die diese Vorzüge erkennen und sich bewusst dezentral niederlassen. Das alles ist Zukunftsmusik, in machen Orten allerdings sind die ersten Töne dieser neuen Melodie bereits hörbar.

Die Haltung
Es braucht die Bereitschaft einer ganzen Gemeinde, diese Chancen anzupacken. Das Bundesamt für Statistik unterscheidet 9 verschiedene Gemeindetypen. Ausserhalb von Stadt und Agglomeration gibt es 3 verschiedene periurbane Typen, je nach Dichte. Dazu zählen die meisten Gemeinden unseres Verteilgebietes. Die entlegenen wie Guggisberg, Wald, Rüeggisberg oder Rüschegg haben nach wie vor eine nicht allzu hohe Distanz zu den Zentren. Deshalb ist keine der Gemeinden bedroht, in die Negativspirale zu kommen und gänzlich in das Szenario der Überalterung oder gar des Aussterbens zu gelangen. Mehr noch: Unsere Region ist quasi in der besten Ausgangslage, mit einigen beherzten Eingriffen rund um Erreichbarkeit, Freizeitaktivitäten, Wohnraum und Digitalisierung den Schritt in eine gesicherte Zukunft zu machen. Würde die Wellenbewegung eines Tages tatsächlich umkehren, wie Egger es in den Raum stellt, dann wären diese Gemeinden die Profiteure der ersten Stunde. «Das ist allerdings eine Frage der Haltung der einzelnen Gemeinde. Sie muss sich bewusst so positionieren wollen», fasst es Steiert zusammen. Man ist bei diesem Gedanken unweigerlich sofort bei der Kostenfrage. Die meisten dieser Gemeinden sind grossflächig, unterhalten ein teures Srassennetz und bewirtschaften auch abgelegene Weiler. Auf den ersten Blick fehlt das Geld, selbst wenn die Haltung da wäre. Steiert hat dies bereits erkannt und meint: «Es sind Bestrebungen im Gange, Randgebiete zu unterstützen, damit sie überleben.» Zusammenarbeit ist einmal mehr das Schlüsselwort. Gemeinden verbinden sich und können mit guten Ideen aufzeigen, wie ihr Gebiet wieder gedeihen könnte. «Das ist eine Chance, aber dafür muss man zuerst etwas tun», fasst Egger zusammen. Denn wer die Abwanderung der Jugendlichen eindämmen will, der muss Anreize schaffen, damit diese ihrem Wunsch nach Rückkehr nachkommen können.

Städte und Agglomerationen müssen ebenfalls ihre Haltung ändern. «Diese Landgebiete sind nicht nur Erholungsraum für die Städter. Jeder Raum hat seine Funktion. Auf dem Land ist es etwa die Ernährungssicherheit», fügt Gennaio hinzu. Digitalisierung, gepaart mit Zusammenarbeit und der Haltung etwas gegen die Abwanderung zu tun, sind die Bausteine für ländliche Gemeinden, ihre Zukunft zu sichern. Dann kehren auch die Jungen wieder vermehrt zurück in ihre Heimat.

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