Als Frieda von ihren wohlverdienten Ferien aus Mallorca zurückkam und sie wegen ihren drei Flaschen alkoholischer Getränke am Schweizer Zoll ihre Ware deklarieren wollte, fragte sie der Zöllner: «Sind sie nicht die Tochter vom Kassenmeier Johann Meier aus Diepoldsau im St. Gallischen Rheintal, denn mein Vater Valentin Keel war mit ihrem Vater befreundet?» Tatsächlich, der Zöllner Keel hatte Frieda aus ihrer Jugendzeit wieder erkannt, obschon sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen hatten! Diese unerwartete Begegnung rief in Frieda dramatische Geschichten aus dem letzten Weltkrieg im Zusammenhang mit den Flüchtlingen und dem «Fall Grüninger» wach. Ihr Elternhaus befand sich in Diepoldsau in der äussersten Reihe nahe an der Grenze. Der damalige humanitäre Einsatz ihrer Eltern wurde bis heute noch nie dokumentiert. Diese bewegenden Ereignisse geschahen damals, als sie noch ein Kind war, und erst später erfuhr sie vieles und nicht zuletzt auch durch den Schwarzweiss-Dokumentarfilm «Grüningers Fall» erkannte sie, wie ihre Eltern ihr zu ihrem und deren eigenem Schutz vieles verheimlicht hatten.
Der Kleideraufzug, die Hühner und das Mehl der Mutter
Aus ihrer Kindheit weiss sie noch, dass sie einmal nachts erwachte, denn sie hörte Geräusche im unteren Geschoss. Als sie die Treppe hinunterging, begegnete sie vier oder fünf unbekannten Menschen, die sie ganz erschrocken und mit grossen Augen anschauten – Flüchtlinge. Darauf kam die Mutter und gab ihnen in der Küche etwas zu essen und, wie sie später erfuhr, schliefen sie dann im Untergeschoss auf den dort bereitstehenden vier Matratzen. Am Nachmittag habe die Mutter in der Waschküche immer den grossen Waschkessel mit Wedeln zum Kochen gebracht, damit am Abend, wenn Flüchtlinge kamen, genug warmes Wasser vorhanden war, damit sie sich waschen oder baden konnten. «Alle Nächte seien neue gekommen» (Stefan Keller, Grüningers Fall, Zürich 1993, S. 59). Weiter erinnerte sich Frieda Meier, dass, wenn jemand ohne Familienangehörige im Dorf oder in der Umgebung starb, die Mutter sich bemühte, die Kleider in Empfang nehmen zu können. Als zum Beispiel einmal eine Frau starb, dachte Frieda: «Warum holt Mutter diese Kleider, wir haben in der Familie doch genug Kleider?» Die Mutter wusch darauf die Kleider und sie hatte im Hof einen Kleideraufzug einrichten lassen, um dann die nassen Kleider trocknen zu können, ohne dass die Nachbarn oder jemand etwas sehen und Verdacht schöpfen konnte. Oder wenn Flüchtlinge über die Grenze sich durchs Wasser retten konnten, nachdem freiwillige Helfer mit Handzeichen sie vor der patrouillierenden Grenzpolizei warnten, hängte Mutter die durchnässten Kleider beim versteckten Kleideraufzug auf. So konnte sie die Flüchtlinge mit trockenen oder anderen und sauberen Kleidern ausstatten. Zudem hatte Mutter eigene Hühner, um die Flüchtlinge ernähren zu können. Es war ja Kriegszeit und es gab Bons für die Nahrungsmittel. Deshalb pflanzte die Mutter auch auf den eigenen Feldern Weizen an und gab das Getreide dann dem Dorfbäcker zum Mahlen. So hatte sie immer genug Vorrat, um die Flüchtlinge mit Brot zu versorgen.
Geld für die Geflüchteten
Vater Meier kümmerte sich wenig um die heimlichen Tätigkeiten seiner Gattin – auch als gegenseitige Schutzmassnahme vor den Behörden. Denn auch Vater Meier riskierte für die Flüchtlinge vieles. Als Bankangestellter der Sparkasse in Diepoldsau überwies ihm z. B. die Jüdische Gemeinde aus New York Geld, welches er entweder selber weiterleitete oder es Paul Grüninger übergab, damit er als Polizeikommandant in St. Gallen illegal und heimlich bedrohte Juden oder sonstige Verfolgte vor den Nazi-Vernichtungslagern retten konnte. Es kamen nämlich sehr viele österreichische Juden durch das nicht tiefe Wasser des Alten Rheins, so dass Ende Juli 1938 in einer alten Fabrik ein Lager für mehrere hundert Personen errichtet wurde (siehe Foto, S.243). Es ist bezeugt, dass Grüninger auch nach Diepoldsau kam und die Situation kannte (S.33-34). Später kamen noch andere Gebäude dazu. Die jüdische Flüchtlingshilfe in St. Gallen finanzierte das Lager (S.46/56).
Transport unter dem Sattel
Das Lager in Diepoldsau hatte Landjäger Ernst Kamm aufgebaut (S.57-58) und er und Meier vertrauten sich gegenseitig. Wie Frieda Meier erzählt, öffnete Kamm ihrem Vater jeweils die Posten zum Lager und er konnte per Velo die naheliegenden Judenhäuser besuchen und den Verfolgten Geld für die Flucht übergeben. Bei der heiklen Mission versteckte er jeweils das Geld unter dem Velosattel. Johann ging mit Flüchtlingen auch nach St. Gallen zu Paul Grüninger und übergab ihm das nötige Geld, damit er für die Bedrohten ihre rettende Flucht mit gefälschten Papieren planen konnte. Im Dokumentarfilm über Paul Grüninger erfuhr Frieda darüber, weil damalige Gerettete aus den USA über die heimlichen und rettenden Aktionen erzählten. Weder Meier noch Kamm wurden damals bei ihren humanitären Einsätzen erwischt.
Menschenleben versus bundesrätliche Anordnungen
Weiter war Johann Meier befreundet mit dem oben genannten Valentin Keel (1874-1945), Regierungsrat in St. Gallen. Er hatte ein Herz für die Bedrohten – der «gutherzige Mensch» (S.21), wie er genannt wurde. Als der Bundesrat dann verfügte, dass (jüdische) Flüchtlinge ohne Visum ausnahmslos zurückgewiesen werden müssen, bewirkte diese Anweisung von oben auch eine Änderung in der Haltung von Regierungsrat Keel, auch gegenüber Paul Grüninger. Obschon er zwischen 1938-39 mehrere hundert jüdische und andere Verfolgte vor dem sicheren Tod durch die Nazis rettete, entliess ihn die St. Galler Regierung 1939 fristlos. 1940 verurteilte ihn das Bezirksgericht St. Gallen wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung. Nie wieder fand er eine feste Anstellung und lebte von Gelegenheitsarbeiten oder als Aushilfslehrer. Bis zu seinem Tod 1972 lebte Paul Grüninger verarmt in St. Gallen. Auch für seine Familie hatte dies schwerwiegende Folgen. Seine Tochter Ruth Roduner-Grüninger (1921-2021) setzte sich zeitlebens für die Rehabilitierung ihres Vaters ein. Auch Alt-Ständerat Paul Rechsteiner (*1952) trat dafür ein. Am 22. Dezember 1970 erfuhr Grüninger noch zu Lebzeiten eine moralische Genugtuung, indem die St. Galler Regierung ihm für «seine menschliche Haltung» dankte. 1993 rehabilitierte ihn die St. Galler Regierung politisch und ein Jahr später publizierte der Bundesrat eine Ehrenerklärung für Grüninger. 1995 hob das St. Galler Bezirksgericht das Urteil gegen ihn auf.
In seinem Lebenslauf schrieb Paul Grüninger: «Es ging darum, Menschen zu retten, die vom Tod bedroht waren. Wie hätte ich mich unter diesen Umständen um bürokratische Erwägungen und Berechnungen kümmern können?»
Zwischen Mordaufklärung und Kirchenchorprobe
Frieda besuchte zuerst die Primarschule im Dorf. Die katholische Familie schickte darauf die Tochter Frieda in das Internat in Rohrschach, geführt von den Menzinger Schwestern. Hundert interne und zweihundert externe Schülerinnen gingen in der Schule ein und aus. Im Internat erlebte Frieda beglückende und fördernde Jahre, nur das stramme Spazieren mit blauem Béret in 4er-Kolonne hinterliessen gemischte Gefühle. Das Frühturnen leitete auch eine Schwester. Besonders den Musikunterricht mit Schwester Cecilia sowie den Klavierunterricht mit Stimmbildung sind ihr in bester Erinnerung. Aber das Singen im Chor, wobei ihre auch im Internat lebende Schwester Sopran und Frieda selbst Alt sangen, prägten sie ein Leben lang, denn den Chorgesang liebte sie über alles. Je ein Jahr lang sangen sie Werke von W. A. Mozart, H. Schütz oder J.S. Bach. Nach der Schule wollte Frieda sich eigentlich in einem Theaterfach ausbilden lassen. Ihre Mutter schickte sie aber in die Berufsberatung und dort wurden die Weichen für eine medizinische Ausbildung gestellt. Da sie aber noch zu jung war, besuchte sie zuerst ein Jahr eine Arbeitsschule, darauf folgte ein Welschlandjahr in Lausanne. Dann liess sie sich drei Jahre als medizinisch-technische Assistentin in St.Gallen bei Prof. Zollinger, einem Pathologen, ausbilden, der auch als PD in Zürich wirkte. Es folgten zwei Jahre in der Histologie und weitere neun Jahre auf diesem Gebiet, denn das war ihr Element. Manchmal mussten dringend mikroskopische Untersuchungen, z. B. nach einem Mord, erledigt werden und so galt es abends bis zum Vorliegen der Ergebnisse dran zu bleiben. Dieses Hin und Her, denn Frieda wohnte noch immer in Diepoldsau und abends war jeweils die Kirchenchorprobe, welche sie ja nicht verpassen wollte, beanspruchten sie sehr.
Ihr Schwager, Arzt im damaligen Zieglerspital, machte sie auf eine ausgeschriebene Stelle in der Forschung bei der Wander AG in Bern aufmerksam. Er war wegen dem permanenten Arbeitsstress in St. Gallen besorgt um ihre Gesundheit. Frieda bewarb sich, wurde angestellt und zog nach Bern. Tragische Liebesgeschichten Ihre Liebesfreundschaften erwiesen sich als sehr bewegt: Zuerst war sie mit einem Herzspezialisten befreundet. Er bildete sich in Boston (USA) weiter. Er kam zurück und plötzlich warf jemand Steine an ihr Fenster in Diepoldsau. Sie öffnete und unten stand ihr Freund, um ihr mitzuteilen, dass er ihr dringend etwas ganz Schlimmes mitteilen müsse: Er habe soeben erfahren, dass er unheilbar an Lungenkrebs erkrankt sei – einige Monate später starb er und nun folgte eine Zeit der Trauer. Sie arbeitete bereits in Bern und lernte einen Mediziner aus Biel kennen. Nach einem Besuch in ihrer Mansarde wurde er auf dem Heimweg von einem Betrunkenen tödlich überfahren. Nach diesen traumatischen Erfahrungen beschloss Frieda, endgültig auf eine Ehe und auf Kinder zu verzichten, denn sie deutete dies als «Fügung Gottes»
Glück im Unglück
Nach ihrer Pensionierung erfuhr Frieda die Gebrechlichkeiten des Körpers: Einmal litt sie an einem Krebsleiden, das geheilt werden konnte. Später erlitt sie einen Hirnschlag in ihrer schönen Wohnung an der Hohlegasse und verletzte sich beim Hinfallen am Kopf schwer, so dass eine Notoperation erforderlich war, um sie retten zu können. Seit vier Jahren lebt sie nun im Pflegeheim Stapfen in Köniz.
Anmerkung des Autors: Was mir bei unserem Gespräch besonders auffiel und mich beeindruckte, war, dass Frieda trotz ihres bewegten und z. T. dramatischen Lebens keineswegs verbittert war. Sie ist mit ihrem tiefen Gottvertrauen eine fröhliche, zufriedene und humorvolle Dame geblieben, die sich begeistern lässt und sehr spannend über frühere Ereignisse erzählen kann. Merci Frieda und Esther!