Fluch oder Segen

Fluch oder Segen

Eltern von Kindern mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) sind bei der Begleitung ihrer Kinder täglich mit immensen Herausforderungen konfrontiert. Viele sind verzweifelt, erschöpft und fühlen sich allein. Zwei Frauen, selbst Mütter von betroffenen Kindern, haben eine Austausch- und Ermutigungsgruppe gegründet.

Es ist bereits das dritte Zusammentreffen der Austauschgruppe mit dem Namen «oASe Schwarzenburg». Das zahlreiche Erscheinen zeigt, wie gross das Bedürfnis der Eltern ist, sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. An diesem Abend berichten Mütter und Väter offen und unverblümt, wie sie den Familienalltag erleben und meistern. Oft ist das Zusammenleben mit autistisch wahrnehmenden Kindern ein Auf und Ab der Gefühle, wie sich anhand der vielen Beispiele in der Diskussion zeigt. Es wird mitfühlend mitgeweint und zusammen herzhaft gelacht. «Wir sitzen alle im gleichen Boot» sagt eine Mutter, legt ihr Hand auf ihr Herz und ergänzt: «Endlich fühle ich mich verstanden, ohne mich gross erklären zu müssen – das tut einfach gut.» Alle im Kreis nicken zustimmend. 

Regionale Vernetzung

Die grosse Dankbarkeit der Eltern ist der Lohn von Mirjam Zurbrügg und Tanja Brügger. Die beiden Initiantinnen haben die Gruppe aus eigenem Antrieb und ohne finanzielle Unterstützung ins Leben gerufen. Zwar gibt es bei diversen Institutionen Selbsthilfegruppen in den grösseren Schweizer Städten, doch die Organisation, um dorthin zu gehen, ist für die oftmals erschöpften Eltern mit viel Aufwand verbunden und somit eine zu grosse Überwindung. «Genau dem wollen wir entgegenwirken und eine Plattform bieten, sich regional zu vernetzten», erklären Zurbrügg und Brügger. Aufgrund der Besonderheiten autistischer Kinder benötigen diese eine intensive Betreuung und Zuwendung im Alltag. Dies gehe an die Sub-stanz, wissen die beiden Freundinnen aus eigener Erfahrung.

Ein Prozess

Der Weg bis zur Diagnose ist oftmals ein langer Leidensweg und ein Kraftakt für alle Beteiligten. Die beiden Schwarzenburgerinnen erhielten die Diagnose für ihre Söhne erst, als diese im Jugendalter waren. «Dies war für meinen Mann und mich ein Aha-Erlebnis und eine Erleichterung», erinnert sich Zurbrügg. Auch ihre Freundin machte diese Erfahrung: «Die Klarheit half mir, die Situation zu akzeptieren. Zudem nahm es mir die grosse Bürde von den Schultern, dass ich bei der Erziehung etwas falsch gemacht hätte». Doch eine Diagnose ist auch ein schmerzhafter Prozess. Für Eltern heisst es, Abschied von Visionen und Idealbildern zu nehmen. Sie krempeln ihr Leben um und richten sich nach den Besonderheiten ihrer Kinder aus. Oft leiden die betroffenen Familien unter Vorurteilen, Ablehnung und Unverständnis von Aussenstehenden, so dass sie sich von ihrem sozialen Umfeld zurückziehen und sich isolieren. Eine Abwärtsspirale beginnt, die nicht selten in einer totalen Erschöpfung und Verzweiflung endet. «Das ist ein Dilemma, denn gerade Eltern in so einer Situation hätten dringend Verständnis und Entlastung nötig», so Zurbrügg. 

«Karten auf den Tisch legen»

Brügger empfiehlt den Eltern in der Austauschgruppe: «Seid offen und informiert euer Umfeld über die Diagnose.» Gerade für die Zusammenarbeit mit Behörden und der Schule sei dies enorm wichtig. In der Schule fallen diese Kinder häufig durch alle Raster. Es fehlt an Zeit und Ressourcen, um die aufwändige Betreuung abzufangen. Auch dass es keine Kleinklassen mehr gibt, ist ein klarer Verlust, sind sich die beiden Initiantinnen einig. Eine Sonderschule, fernab vom Wohnort, ist für die Familien oftmals der einzige Ausweg.  «In dieser Hinsicht muss noch viel an Aufklärungsarbeit passieren. Vor allem auf politischer Ebene braucht es eine Diskussion und Lösungen», sagt Zurbrügg und ergänzt: «Schlussendlich steht immer das Wohlergehen des Kindes im Zentrum und nicht das, was für die Gesellschaft ‹gäbig› wäre.»

Menschen für das Thema zu sensibilisieren, das Verständnis zu fördern und Eltern Mut zu machen ist für die beiden Frauen eine Herzensangelegenheit. Auch die Eltern von der Austauschgruppe «oASe» sind sich einig: Wenn es der Gesellschaft gelingt, die Besonderheiten der Menschen mit einer ASS zu verstehen, anzunehmen und wertzuschätzen, können wir sie anerkennen für das, was sie wirklich sind: feinfühlige und liebenswerte Menschen, die ihren Platz in unserer Mitte verdienen, egal welche Diagnose sie haben.

INFO:

www.oase-schwarzenburg.jimdosite.com

 

ASS – für Laien erklärt

Jede Autistin/jeder Autist ist in der Ausprägung einzigartig und nicht vergleichbar. Doch folgende Merkmale haben alle gemeinsam: Sie haben eine andere und intensivere Sinneswahrnehmung als sogenannte Neurotypen. Oft sind sie entgegen den Vorurteilen sehr feinfühlig und sensibel. Viele sind hochbegabt, jedoch längst nicht alle. Interessiert sie ein Thema besonders, werden sie Spezialistinnen auf diesem Gebiet. Viele haben Schwierigkeiten in sozialen Interaktionen mit anderen Menschen. Überforderung / Stress kann sich in emotionalem Rückzug, Depressionen, Wutanfällen und Aggression äussern. Routinen, Strukturen und klare Anweisungen bei der Kommunikation geben ihnen Sicherheit.

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