Ich wohne in einer lustigen Gemeinde. Wobei lustig ist das falsche Wort. Folgendes: am 1. Juli 2019 haben wir – 2 Bekannte und ich – bei der Gemeindeverwaltung in Wohlen nachgefragt, ob die Gemeinde nicht dazu motiviert werden könnte, auf einem 300 Meter langen Streckenabschnitt der kantonalen Dorfstrasse und einer Zufahrtsstrasse Tempo 30 statt 50 km/h einzuführen, weil dort Schülerinnen und Schüler die Strasse überqueren müssen. Trotz zweier Fussgängerstreifen kommt es zu brenzligen Situationen. Die Gemeinde lehnte, nach einem ersten Zwischenbericht im August, unser Gesuch mit Ausreden, pardon, mit Argumenten und Paragraphen ab, die… aber lassen wir das. In der Zeitung lesen wir dann Monate später, dass die gleiche Gemeindeverwaltung sich bemüht, in Uettligen – zur Gemeinde Wohlen gehörend – Tempo 30 auf der Hauptstrasse einzuführen, zusammen mit dem Kanton, und zwar «so schnell wie möglich». Sorry, da löschts eim ab.
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Was jetzt? Unser Trio beschliesst, eine Petition zu starten, für das besagte Anliegen. Klar, eine Petition kann man zur Kenntnis nehmen – oder sie gleich in den Papierkorb werfen. Massenhaft Unterschriften zusammenbringen, mit dem Einsatz von sozialen Medien und Rundmails, damit die Sache gewichtig(er) daherkommt? Könnte man. Wollen wir aber nicht. Uns geht es darum, dass Wohlenerinnen und Wohlener ihren Willen zum Ausdruck bringen. Also bedienen wir sämtliche Briefkästen des Dorfs mit erklärenden Worten, in der Hoffnung, zwischen 150 und 200 Unterschriften zusammenzukriegen. Klar, tönt nach wenig: Erklärung unmittelbar zuvor. Zusätzlich suchen wir den persönlichen Kontakt. Selber stehe ich vor dem Corona-Schock einige Stunden im Dorfkern von Wohlen, bei der Landi, spreche Leute an. Interessant, was man da zu hören bekommt, die gesamte Bandbreite.
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Schätzungsweise 2 Drittel der angesprochenen Leute finden das nicht bloss eine gute Sache, sondern grössenteils sogar dringend notwendig. Und nicht nur das: Sie bitten mich, der Gemeinde zusätzlich zur Petition mitzuteilen, dass einiges im Argen liegt, natürlich nur verkehrstechnisch. Beispiel Kirchgasse. Auf dieser Gemeindestrasse gefährden vor allem Schüler mit ihren Töffli – viele rücksichtslos unterwegs – Kindergärtler, zu Fuss in Richtung zum/vom Chindschgi. Viele Anwohner erzählen davon, dass man die Gemeinde gebeten habe, etwas zu unternehmen, ohne Erfolg. Kommt mir irgendwie bekannt vor. Oder die Verengung auf Höhe Gasthof Kreuz: Hier weiss man nicht, wer Vortritt hat. Es kommt immer wieder zu gefährlichen Situationen, zu beschädigten Felgen. Am anderen Ende der Dorfstrasse gibt es eine relativ neue Überbauung mit einer eher abenteuerlichen Ausfahrt aus der Einstellhalle, die dazu führt, dass es – mit dem Fuss auf dem Gaspedal, weil die Signaltafel Tempo 70 in Sichtweite – vielfach «Horror» ist, vor allem mit dem Abbiegen nach links. Und die Leute wundern sich, dass die Gemeinde hier eine Baubewilligung erteilt hat.
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Item. In aller Unbescheidenheit: Viele Leute aus Wohlen kennen mich, wir wechseln ein paar Worte, meistens aufmunternde an meine Adresse. Es gibt aber auch die anderen, wie ein Nachbar, der sich ereifern kann, obwohl ich den Ball flach zu halten versuche: «Gehörst Du jetzt zu den Greta-Jüngern?» Um eine Eskalation zu vermeiden, verzichte ich auf eine passende Antwort à la «Wie waren wir denn 1968? Und heute? Golf, Segeln, teure Reisen, Ferienwohnung. Gut, gibt es junge Leute, die etwas bewegen wollen, wir Oldies kriegen das ja nicht mehr auf die Reihe. Bewahrer statt Erneuerer.» Isch doch wahr.
Was mich erstaunt: Viele Autofahrer mit «rächte Schlitte» – grosser Mercedes, BMW oder Audi – die prima vista kaum zu unserer Zielgruppe gehören, unterschreiben, finden das eine gute Aktion. Auch ein Porsche Panamera-Fahrer. Hoppla.
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Die wohl originellste Begegnung: 2 Männer, wohl um die 50, steigen aus ihrer Karre. Könnten von der Statur und Lederbekleidung her klassische Rocker sein. Sie kommen auf mich zu, ich gehe Ihnen einige Schritte entgegen. «Myner Herre, guete Tag.» – «Mir sy kener Herre.» – «Auso halt, Gentlemen…» – «O kener Tschentellmenn.» – «Auso, Giele…» – «So isch guet.» Wir kalauern eine ganze Weile, dann unterschreiben sie tatsächlich. Als einer der beiden merkt, dass er von mir zur Signatur einen «Broncos Security»-Kugelschreiber in die Hand gedrückt bekommt, will er ihn gleich behalten. «Nüt isch, Giele, göht itz gho ychoufe…»
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Zum Schluss haben wir 500 Namen auf unseren Petitionsbögen, mehrheitlich aus Wohlen, und übergeben sie ebenso persönlich Ende letzten Monats dem Gemeindepräsidenten, der durchaus Sympathien für uns bekundet. An einer Klausur will der Gemeinderat demnächst über die Dorfentwicklung im Allgemeinen beraten, samt der Verkehrsführung. Unmittelbar vor Druckbeginn erfahren wir, dass die Gemeinde unser Gesuch beim Kanton eingereicht hat.