Hilfe im Alltagswahnsinn

Hilfe im Alltagswahnsinn

Über 700 Bernerinnen und Berner wählten letztes Jahr den Elternnotruf. Die Beratenden des niederschwelligen Angebots bieten keine fixfertigen Lösungen, sondern ein offenes Ohr und Impulse für die Bewältigung des «ganz normalen Familienwahnsinns».

Der achtjährige Sohn trödelt, weil er nicht gern zur Schule geht. Die zweijährige Tochter kreischt beim Einkaufen, wenn sie an der Kasse keine Gummibärli erhält. Die 14-Jährige hat Liebeskummer, verweigert aber jedes Gespräch, zieht sich zurück und isst kaum mehr. Und mit dem 11-Jährigen geraten die Eltern täglich in Machtkämpfe: Eltern geraten immer wieder an ihre Grenzen. Mal fühlen sie sich deswegen ausgelaugt, andere Male kommt es zum Wutausbruch, wird auch mal ein Kind geschüttelt oder angeschrien. In solchen Momenten der Ohnmacht fühlen sie sich oft allein. Doch was viele nicht wissen: Seit über 40 Jahren können Mütter und Väter den Elternnotruf wählen. Jeden Tag, rund um die Uhr und kostenlos. 747-mal wählten Eltern aus dem Kanton Bern im letzten Jahr die Nummer des Elternnotrufs, 4437-mal war es schweizweit. Dazu kommen die ebenfalls kostenlosen E-Mail- und Chat-Beratungen. 

Erschöpft und überfordert

Warum rufen Mamis und Papis an? «Meist ist es der ganz normale Familienwahnsinn», sagt Lena Etienne. Die 41-Jährige ist seit knapp drei Jahren als Beraterin beim Verein Elternnotruf tätig. In ihrer Berner Mansarde nimmt sie während der Morgenschicht, am Nachmittag oder abends Anrufe aus der ganzen Schweiz entgegen; die meisten aus den Kantonen Zürich, Bern und Aargau. 14 Beraterinnen und Berater sind in fünf Sprachen für den durch kantonale Leistungsverträge und Spenden finanzierten Elternnotruf tätig, einmal monatlich treffen sich alle in Zürich, dazu kommen regelmässige Weiterbildungen oder Supervision. 1983 als Projekt an einer Zürcher Schule für Soziale Arbeit gegründet, hat sich die Gesellschaft in den vergangenen 40 Jahren verändert. Manche Themen sind geblieben, andere sind in den Hintergrund getreten oder neue hinzugekommen. Mütter und Väter suchen Hilfe, weil sie erschöpft sind, sich ohnmächtig oder überfordert fühlen.

Durchatmen und erste Schritte

«Häufig begleiten wir die Eltern darin, aus einer Endlosspirale von Machtkämpfen auszusteigen», beschreibt Etienne ein Gefüge, das oft vorkommt. Um ihren Kindern dabei zu helfen, sich in hitzigen und emotionsgeladenen Situationen wieder beruhigen zu können, müssen Mütter und Väter oft zuerst bei sich ansetzen. Ein Anruf bei einer Fachperson kann hierbei ein erster Schritt sein. Es hört jemand Aussenstehendes und Unbeteiligtes zu, man kann Frust abladen, auf Wunsch auch anonym. Sich verstanden zu fühlen und Werkzeug erhalten zu haben, um nächste Schritte machen zu können, bringt erste Erleichterung. «Oft höre ich, wie Eltern gegen Ende des Telefonats tief durchatmen und mir rückmelden, dass sich die Situation jetzt etwas leichter anfühlt.» Meistens dauert eine Telefonberatung eine halbe Stunde. Bei rund der Hälfte der Anrufe empfehlen die Beratenden den Eltern, sich bei einer Fachstelle weitere Hilfe zu holen.

Verbindung statt Ohnmacht

«Der Umgang mit Medien ist eine verbreitete Herausforderung», nennt die 41-Jährige einen weiteren Dauerbrenner. Auch Schulverweigerung, Ängste und häusliche Gewalt werden immer wieder genannt. «Während eines Anrufs kann man die Problematik nicht lösen. Aber wir können etwas anstossen und unterstützen», sagt sie, «denn es sind oft die kleinen Schritte, die einen ersten Unterschied machen.» Kürzlich war eine Anrufende ausser sich vor Wut: Ihr Kind mache nie das, was es tun sollte. «Da war es mir wichtig, ihr zuerst einmal viel Wertschätzung entgegenzubringen und die Herausforderung zu würdigen.» Danach gehe es darum, die betreffende Person wieder in eine Selbstwirksamkeit zu führen – also aus dem Gefühl der Ohnmacht hinauszubegleiten. Gelingt das, kann der Elternteil leichter eine «andere Brille aufsetzen». Denn, so Etienne, man könne ein Kind nicht zu etwas zwingen, das ende bloss in Machtkämpfen. Stattdessen empfiehlt sie das «connect to redirect», übersetzt etwa «in Verbindung kommen, um auf einen anderen Weg zu gelangen». Denn das äusserlich sichtbare Verhalten sei oft ein Fenster, das einen Einblick ins Innere des Kindes gebe. Dort finde man vielleicht ein unerfülltes Bedürfnis nach Sicherheit oder Nähe, Enttäuschung oder Frustration.  «Diese Methode ist einleuchtend und ein zentraler Aspekt in unserer Beratung», sagt Etienne. Selbstfürsorge sei ein weiterer Punkt, der wichtig sei für Eltern und dennoch oft vernachlässigt werde.

Druck am Arbeitsplatz, Anforderungen der Schule, Erwartungen der Gesellschaft: Manch Stressfaktor ist strukturell bedingt – von den Auswirkungen globaler Krisen gar nicht erst zu reden. Familienpolitisch könnte am einen oder anderen Ort viel bewirkt werden. Beraterinnen und Berater wie Lena Etienne können das grosse Ganze nur bedingt beeinflussen. Aber sie bieten, so niederschwellig wie nur möglich, jährlich Tausenden von Müttern und Vätern eine Oase: Verständnis, Wertschätzung, und fachliche Unterstützung. Sodass das nächste Mal, wenn die Tochter sich im Coop zu Boden wirft oder der Sohn eine Krise hat, etwas mehr Ruhe und Zuversicht herrscht.

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