Ich bekenne mich… mitschuldig

Ich bekenne mich… mitschuldig

Nicht alle Leute in Barcelona, in Dubrovnik oder in Venedig sind gut auf jene Touristen zu sprechen, die mit Kreuzfahrtschiffen zu ihnen anreisen. Geht den Interlaknern und Luzernern ebenso, obwohl diese beiden Orte nicht am Meer liegen (oder sonst hätte ich im Geografieunterricht etwas verpasst). Eine kritische Betrachtung.

Sie ist eindrücklich, die dreiteilige Dokumentation, die das französische Fernsehen ausgestrahlt hat. Eine Journalsitin berichtet über ihre Erfahrungen auf ein- und demselben Schiff. Einmal offiziell als Journalistin, gehegt und gepflegt, einmal als gewöhn­liche Reisende, weniger aufmerksam betreut, und Teil drei als Undercover-Ange­stellte der «niedrigsten» Mitarbeiterkategorie während sechs Monaten an Bord, vom Personalchef sogar mit sexuellen Avancen bedacht, um ihre Stellung zu verbessern. Alles mit versteckter Kamera festgehalten. Unschön.

Wie eine Heuschreckenplage
Auf die Mitarbeitenden kommen wir gleich zu sprechen. Zuerst zu jenen Bewohnenden von Städten, die immer öfter von den immer grösser werdenden Schiffen mit bis zu fast 7000 Reisenden (und zusätzlichen 2200 Angestellten) geradezu überfallen werden.

Geht so: Nach dem Zmorge warten jeweils Dutzende von Reisecars vor einem Schiff, um mit den Leuten in die Stadt zu fahren. Nota bene: Manchmal stehen bis zu fünf Schiffe nebeneinander. Mit anderen Worten: Das Verkehrschaos – Beispiel Tallinn, wo die Schiffe sozusagen direkt vor der Altstadt anlegen – ist total, einheimische Handwerker kommen mit ihren Autos nicht mehr durch die Strassen. Und was machen die Touristen, ausser Stras­sen und Plätze zu blockieren? Sie benutzen die vorhandene Infrastruktur, Toiletten von Restaurants, wo sie nichts trinken oder essen (man ist ja noch gesättigt), geben kaum Geld aus und verschwinden gegen 16 Uhr wieder auf ihre Schiffe zum Zvieri. Zurück bleiben Abfall und Frust bei den Einheimischen.

Dumme Europäer?
Ich gebe es zu: Kürzlich war auch ich an Bord eines Kreuzfahrtschiffes, entlang der amerikanischen Ostküste.

Wer schon einmal eine Kreuzfahrt unternommen hat, weiss, dass es üblich ist, dass man pro Tag und Person gegen 15 USD für Trinkgelder ans Personal verrechnet bekommt. Praktisch unbekannt bleibt, dass dies freiwillig ist, weil der Betrag automatisch auf der Rechnung erscheint… An Bord erfährt man dann plötzlich, dass dies bei Leuten, die in Amerika gebucht haben, nicht der Fall ist. Dort sind diese Leistungen im Pauschalpreis bereits inbegriffen. Auf einer Backstage-Führung an Bord wird mir der Sachverhalt bestätigt. «Sind es auch tatsächlich 15 Dollar pro Tag und Person, die im Preis einkalkuliert werden?», will ich von der Führerin wissen. «Das kann ich Ihnen nicht sagen.» – «Wer dann?» – Wenden Sie sich bei Ihrer Rückkehr an die Marketingabteilung.» Ende der Durchsage. Ein professioneller amerikanischer Kreuzfahrer sagt mir, bei ihren Preisen seien gar keine Trinkgelder inbegriffen, weil der Pauschalpreis sonst viel zu hoch sei – die Reise unverkäuflich, wir Europäer seien zu gutgläubig und deshalb leicht über den Tisch zu ziehen. Ich lasse das mal so im Raum stehen, unkommentiert, vielleicht haben «Kassensturz» oder «Beobachter» Zeit, der Sache einmal auf den Grund zu gehen.
Zweiklassen-Gesellschaft
Ich spreche mit verschiedenen Angestellten, will dann während der Führung wissen, ob ihre Aussagen stimmen. Unsere Leiterin bestätigt: Sieben Monate nonstop im Einsatz, ohne freie Tage, «jedoch höchstens 13 Stunden am Tag.» Ferien- und Feiertage sind im Gehalt eingerechnet. Wie hoch dieses ist, will sie mir nicht sagen. Dass die Kabinen der Mitarbeitenden im «Untergrund» mit Kajütenbetten nicht ganz (…) dem Standard jener der Gäste entsprechen, versteht sich von selbst. Hin- und Rückreise zum Wohn- resp. Einschiffungsort bezahlen die «einfachen» Mitarbeitenden – meistens aus Indonesien, den Philippinen, Indien oder Ländern Osteuropas – selber, im Gegensatz zu den Offizieren, die ihre Ferien bezahlt erhalten. Je mehr ich frage und keine Antworten bekomme, desto unwohler fühle ich mich. Da nützt auch ein «Hier an Bord haben die Leute keine Ausgaben, sie können ihren Lohn zu 100% beiseiteschaffen und ihre Familie unterstützen. Zu Hause hätten sie womöglich gar keine Arbeit» nicht viel. Das Wort «ausgenützt» geht mir durch und nicht mehr aus dem Kopf.

Wäre ich CEO einer Reederei, würde ich aus strategischen Überlegungen heraus ab 2025 nur noch möglichst «grüne» Schiffe betreiben, die nicht mehr als 1500 Gäste transportieren und mir einige selber aufgestellte Verhaltensregeln auferlegen. Nur wäre ich in jenem Fall als CEO kaum mehr tragbar.

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