Nach der Bekanntgabe des Versammlungsverbotes gab es einen Aufschrei. «Wir überlegten uns, was wir machen können. Denn die Kirche muss in der Krise für die Leute da sein und nicht zumachen und sagen ‹uns gibt es nicht›», erklärt Bernhard Neuenschwander, Pfarrer in Wabern. «Wir stellten uns die Frage, was können wir tun, um Stabilität und Inspiration zu bieten, denn das sollte die Kirche in so einer Situation machen.» Daraus entwickelte sich die Idee, Online-Gottesdienste durchzuführen. Philipp Hänni bot an, das Team von «youreport», das unter seiner Aufsicht Filme und Videos dreht, zur Verfügung zu stellen. Der Pfarrer aus Wabern übernahm die erste Ausgabe. Die Art und Weise, wie er das Ganze anging, sollte das Format prägen.
Ende März zeichneten sie die erste Predigt auf. «Für mich waren Stabilität und Inspiration wichtig. Das heisst, ich wollte bekannte Personen, wie den Pfarrer und den Organisten, im bekannten Raum, also in der Kirche, zeigen», erzählt Neuenschwander. «Für mich war auch klar, dass wir keinen ganzen Gottesdienst aufnehmen. Das wäre zu lang. Es sollte wortzentriert sein: eine klare, gehaltvolle Botschaft, vergleichbar mit dem Wort zum Sonntag.» Orgelmusik stimmte die Zuschauer ein, die Kirche war bis auf den Pfarrer, den Organisten und den Kameramann leer. Schliesslich wollte man «keine Gemeinschaft vorspiegeln, die es so momentan nicht gibt», um die Authentizität zu wahren.
Unter dem Namen «Sonntagsproviant» zeichnete «youreport» jeden Sonntag, am Karfreitag und am Ostersonntag jeweils mit einer Pfarrperson der Gemeinde Köniz einen Online-Gottesdienst auf. Das Angebot gibt es noch bis Anfang Juni, aber nicht mehr jede Woche, da die Kapazitätsgrenze der Pfarrerschaft und «youreport» erreicht ist. Parallel zu diesem Angebot startete Bernhard Neuenschwander eigene Online-Predigten unter dem Namen «Mystik heute». Dafür nutzte er das gleiche Konzept, aber eigene Ressourcen und nur jeweils ein Orgelstück für den Ein- und Ausstieg. «Auch mit filmisch einfachen Möglichkeiten kann man Stimmung erzeugen und eine gehaltvolle ‹Message› vermitteln», meint der 56-Jährige. Vorteile der Online-Gottesdienste sieht der Pfarrer darin, dass sie orts- und zeitunabhängig in Anspruch genommen werden können: «Mir haben Leute geschrieben, dass sie während des Aare-Spaziergangs gelauscht haben oder daheim mit dem Kaffee in der Hand.» Weiterhin sei positiv, dass man es schauen könne, wenn es passt, und abschalten oder vorspulen, wenn es «genug sei». «Wir erreichen ein viel grösseres Publikum, das weiter verstreut ist als bei einem normalen Gottesdienst. Selbst wenn nur ein Drittel davon die Sendung komplett anschaut, sind es mehr Leute als sonst. Ausserdem erreichen wir Leute, die sonst nicht kommen», erläutert Bernhard Neuenschwander. Aber es gibt auch einen Nachteil: «Es braucht einen Internetanschluss, das ist gerade für ältere Leute oftmals eine Hürde.» Es sei ein anderes Verständnis von Gemeinschaft entstanden: virtuell statt kollektiv. Aber die Gespräche vor und nach dem Gottesdienst fehlen den Beteiligten. Das Thema der Online-Version werde aktuell bleiben, davon ist der Theologe überzeugt, aber der traditionelle Gottesdienst sei nicht zu ersetzen. Es wird wohl eher eine Ergänzung des Angebots sein. Die Resonanz der Menschen war positiv und das Echo gross. «Viele Leute sind auf den Inhalt eingegangen. Es ist eine Art von Seelsorge und sie beginnen, in sich zu gehen», sagt der Pfarrer. «Mein Anspruch lautet: Ich will etwas sagen und die Leute sollen zuhören. Man muss sich für 15 Minuten konzentrieren.» Das gelingt nicht jedem, so lautete eine Rückmeldung: «Es ist brillant, aber meine Aufmerksamkeitsspanne ist nicht so lang.» Neuenschwanders Predigten sind zudem auf seiner Website (www.ritualart.ch) in schriftlicher Form verfügbar.
Neben der Kamera war die Kirchgemeinde ebenfalls für die Leute da. «Es gibt viele Menschen, die jetzt vermehrt alleine sind, vor allem Alte. Der Kontakt fehlt ihnen. Ich habe es so wahrgenommen, dass es geschätzt wird, wenn man für sie da ist», sagt Bernhard Neuenschwander, der wie seine Kollegen telefonisch, per E-Mail, aber auch im Pfarramt mit entsprechendem Abstand zur Verfügung steht. Der Lesekreis, der sonst alle 2 Wochen stattfindet, wurde ebenfalls elektronisch durchgeführt. Ältere Mitmenschen hätten sich gemeldet, ob sie teilnehmen dürften, um so in Kontakt mit anderen zu kommen. Das sei ebenso eine Form von Seelsorge. «Für die wöchentliche Meditation habe ich dazu aufgefordert, diese zur gleichen Zeit zu machen. Es kamen viele Rückmeldungen, dass eine neue Verbundenheit entsteht, wenn man sich vorstellt, dass die Leute, die man sonst beim Meditieren trifft, nun zur selben Zeit in sich gehen», erzählt der Theologe. Das «Social Distancing» sei schwierig, weil es dem menschlichen Bedürfnis nach Nähe widerspricht. Die Forderung würde bei vielen eine diffuse Ängstlichkeit hervorrufen. «Da muss die Kirche sensibel sein. Wir müssen das Verlangen nach menschlicher Nähe anerkennen, darauf eingehen, aber ohne unnötige Risiken einzugehen. Das ist ein schmaler Grat», so Bernhard Neuenschwander. «Man darf sich nicht aus Angst ins Schneckenhaus verkriechen. Wir müssen aktiv werden und herausfinden, wie wir helfen können.» Auf Menschen zugehen, ohne sie zu gefährden – ein guter Ansatz, der in der heutigen Zeit sehr wichtig geworden ist.


