Ist die integrative Schule noch zu retten?

Ist die integrative Schule noch zu retten?

Die integrative Schule ist unter anhaltenden politischen und gesellschaftlichen Druck geraten. Der Ruf nach Abschaffung der «Schule für alle» ist in einigen Kantonen zunehmend lauter zu vernehmen. Hans-Peter Kohler (FDP), Vorsteher der Direktion «Bildung und Soziales» in Köniz, äussert sich im Gespräch zur herausfordernden Entwicklung der integrativen Schule. Derweil zeigt das Beispiel «Lerninsel» an der Schule Thierachern einen möglichen Lösungsansatz auf.

Das Dilemma ist bereits 2021 im Integrationsartikel des revidierten kantonalen Volksschulgesetzes VSG angelegt: «Schülerinnen und Schülern, deren schulische Ausbildung durch Störungen und Behinderungen erschwert wird, soll der Besuch der ordentlichen Bildungsgänge ermöglicht werden. Findet dieser Besuch statt, ist zu gewährleisten, dass die leistungsstarken Mitschülerinnen und Mitschüler bedarfsgerecht gefördert werden.» Doch in den letzten Jahren ist der integrativen Schule die geforderte Förderung leistungsstarker Schülerinnen und Schüler zunehmend abhandengekommen. Verursacher sind nicht die leistungsschwachen Schülerinnen und Schüler mit Sonderschulstatus, sondern in erster Linie verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche, die einen ruhigen und konzentrierten Unterricht im Klassenzimmer notorisch stören oder gar verunmöglichen.

Aufkommender politischer Widerstand

2023 zeigte die kantonale Umfrage «Einführung von Förderklassen für dauernd störende Schülerinnen und Schüler» in Basel, dass eine deutliche Mehrheit der Befragten es als erwiesen ansah, dass die Integration von verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern einen negativen Einfluss auf das Leistungsniveau der Klassen ausübt. 2024 stimmte das Basler Kantonsparlament dem Vorschlag der Regierung zur Einführung von Förderklassen zu. Ähnliches hat sich Anfang dieses Jahr im Kanton Zürich zugetragen. Nachdem in einer Umfrage des Forschungsinstituts GfS zwei Drittel der Befragten die Wiedereinführung von Kleinklassen gefordert hatten, wurde im März 2025 die Zürcher Bildungsdirektion beauftragt, Vorschläge zur flächendeckenden Wiedereinführung von Kleinklassen auszuarbeiten.

Neuer Name – altes Problem im Kanton Bern

Im Kanton Bern ist im Zug der Umsetzung der integrativen Schule die Kleinklasse nicht abgeschafft, sondern in «Klasse zur besonderen Förderung» umbenannt worden. Jede Gemeinde entscheidet selbst, wie sie die vom Kanton zugesprochenen heilpädagogischen Lektionen einsetzt. Dabei werden jedoch Kinder nach wie vor aus dem Klassenverband der Regelschule ausgeschlossen. Das Problem der Ausgrenzung der Kinder bleibt bestehen.

«So kann es nicht mehr weitergehen»

Hans-Peter Kohler, seit 2018 amtierender Bildungsdirektor in Köniz, verfolgt die Entwicklung der integrativen Schule mit Sorge: «In der Revision des Volksschulgesetzes vor fünf Jahren ging es fast ausschliesslich um Kinder und Jugendliche, die in der Schule Probleme hatten und auf besondere Förderung angewiesen waren. Man ging davon aus, dass die restlichen ca. 20 % leistungsstarken Schüler ihren Weg alleine machen werden. Doch für sie hat sich die Volksschule unvorteilhaft entwickelt – in erster Linie wegen der wachsenden Unruhe und Hektik in den Klassenzimmern, verursacht durch verhaltensauffällige Schüler und Schülerinnen. Lehrpersonen müssen einen grossen Teil ihrer Energie für die Einhaltung von Regeln einsetzen, statt sich auf ihre eigentliche Kernaufgabe konzentrieren zu können. Zu ihrer Entlastung werden seit Jahren vermehrt Heilpädagogen, Klassenassistenzen, Zivildienstleistende oder Quereinsteiger ohne pädagogische Ausbildung eingesetzt. Nichtsdestotrotz fordern die Berner Bildungs- und Kulturdirektion BKD und die Pädagogische Hochschule PH unbeirrt mehr Ressourcen für sonderpädagogisches Fachpersonal. So kann es nicht mehr weitergehen. Ich fordere die PH auf, ihr pädagogisches Konzept zu hinterfragen und die richtigen Prioritäten zu setzen. Im Interesse der Lehrkräfte müssen im Klassenzimmer wieder Ruhe, Disziplin und Respekt hergestellt werden. Es kann nicht sein, dass verhaltensauffällige Kinder ihre Klasse über Monate hinweg schikanieren, ohne dass dagegen etwas unternommen wird. Dies umso mehr, als wir auf ein bewährtes Instrument zurückgreifen können. Die Klasse zur besonderen Förderung ist im Kanton Bern nicht abgeschafft worden.»

 

Integrative Schule nicht abschaffen, sondern weiterentwickeln

An der Oberstufe Thierachern können seit August 2024 den Unterricht störende Schüler und Schülerinnen innerhalb des Schulhauses in die Lerninsel geschickt werden. Die Verantwortlichen geben im Gespräch Auskunft über den Nutzen dieser pädagogischen Massnahme für Schule, Kinder und Lehrpersonen:

Welche Schülerinnen und Schüler kommen in die Lerninsel?
Naomi Schweizer: «Hier arbeiten einerseits Kinder mit besonderem Förderbedarf, andererseits dient sie auch als kurzfristiger Arbeits- und Lernort für Schülerinnen und Schüler – sei es, weil sie als Hochbegabte in Ruhe arbeiten wollen oder weil sie den Unterricht gestört haben.»

Welches ist der Nutzen der Lerninsel?
Michel Weber: «Vorteilhaft sind die kurzen Wege vom Klassenzimmer in die Lerninsel. Indem wir den Unterricht störende Kinder aus der Klasse nehmen können, werden Lehrpersonen der Regelklasse und die Klasse selbst wirksam entlastet. In der Lerninsel arbeiten die Kinder am stofflichen Inhalt des Regelunterrichtes weiter. Wir stellen fest, dass sie in der Regel konzentrierter arbeiten, sobald sie in der Lerninsel sind, wo nur im Flüsterton gesprochen wird.»

Peter Grunder: «Bei der Lerninsel findet keine Stigmatisierung des Kindes statt, weil es im Klassenverband bleibt, auch wenn es zu uns geschickt worden ist. Die Lerninsel ist die richtige Antwort, wenn in einer Klasse grosse Heterogenität herrscht und es viele Kinder hat, die einen anderen Lernort benötigen als der Klassenverband.

Naomi Schweizer: «Die Kinder kommen gerne in die Lerninsel. Auch vonseiten der Lehrpersonen ist die Wertschätzung gross. Der Nutzen für die Schule, die Kinder, die Lehrpersonen und nicht zuletzt für die Eltern ist gegeben.»

Wie gross ist der administrative Aufwand, wenn ein Kind in die Lerninsel geschickt wird?
Peter Grunder: «Die Lehrperson notiert auf dem Ticket sowohl die Aufgaben, an denen in der Lerninsel weitergearbeitet werden soll, als auch die Dauer des Aufenthaltes. Das Kind gibt beim Eintritt in die Lerninsel das Ticket ab, sodass alle Beteiligten informiert sind. Alles in allem hat dies wenig administrativen Aufwand zur Folge.»

Ist die Lerninsel während der Unterrichtszeit von Montag bis Freitag geöffnet?
Michel Weber: «Ausser Mittwoch- und Freitagnachmittag ja – also während acht von zehn Halbtagen. Wir arbeiten daran, sie während der ganzen Unterrichtszeit offen zu halten. Noch fehlen uns derzeit allerdings die erforderlichen Ressourcen. Aber das wird noch werden.»

Welches ist momentan die grösste Herausforderung für die Lerninsel?
Peter Grunder: «Der Fachkräftemangel macht sich nicht nur bei der Suche nach geeigneten Lehrpersonen bemerkbar, sondern auch bei der Heilpädagogik. Uns hätten im letzten Schuljahr noch weitere heilpädagogische Lektionen zur Verfügung gestanden, doch wir haben auf dem völlig ausgetrockneten Arbeitsmarkt niemanden gefunden.»

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