Mitten unter uns

Mitten unter uns

13,6 Prozent der Menschen im Rentenalter gelten als einkommensarm, 19 Prozent armutsgefährdet. Betroffene leben mitten unter uns. Unerkannt und voller Scham, wenn es darum geht, um Hilfe zu bitten. Dagegen kann man vorgehen. Einer der Lösungsansätze dürfte die Politik besonders beschäftigen.

Frau Leisi* setzt sich an den Küchentisch. Auf dem Teller vor ihr liegen 2 Kartoffeln und ein Aromat. Es ist eine ganz normale Mahlzeit für die Frau, die alleine und nahezu unerkannt in einem alten und anonymen Mehrfamilienhaus lebt. Für ihre 2-Zimmer-Wohnung bezahlt die Dame 980 Franken im Monat. Nach Abzügen für Versicherungen, Krankenkasse, Steuern, Strom, ihre Medizin und den Netzanbieter bleiben ihr noch 170 Franken zum Leben. Doch die rüstige Frau beklagt sich nicht und traut sich nicht einmal anzufragen, ob sie Ergänzungsleistungen beantragen könnte.

Zwischen Stuhl und Bank
«Dort wo jemand knapp über der Grenze für Ergänzungsleistungen liegt, beginnt die Armut», weiss Ruth Schindler. Die Geschäftsführerin von Pro Senectute Bern kennt viele solcher Beispiele aus unserem Verteilgebiet. «Wenn man Anspruch auf Ergänzungsleistungen hat, ist man zwar arm, wird aber unterstützt. Jene die knapp darüber sind, zahlen beispielsweise die volle Krankenkassenprämie. Sie sind quasi die unsichtbaren Armen», erklärt sie. Zu dieser Gruppe gehört Frau Leisi. Sie hat sich eingerichtet, damit die Rechnung einigermassen aufgeht, wobei der Taschenrechner auf dem Küchentisch so oft gebraucht wird wie das Rüst­messer. Sie hätte die Möglichkeit, sich bei «Pro Senectute» zu melden. «Wir beantragen dann, aus einem Fonds Geld zu generieren, um auszuhelfen. Dann etwa, wenn eine Zahnarztrechnung ansteht», nennt Schindler ein Beispiel. Für Frau Leisi kommt das aber nicht in Frage, zu gross ist ihre Scham, nach Unterstützung zu fragen. Sie ist damit kein Einzelfall, sondern in guter Gesellschaft. Mehr noch, es gibt auch jene Frau aus Riggisberg, die stolz darauf verzichtet und mit ihren 2500 Franken im Monat auskommt und sogar noch ein paar Franken auf die Seite legt.

Alleinstehende Frauen
Von Altersarmut sind deutlich mehr Frauen als Männer betroffen, wie eine Studie des Bundesamtes für Statistik (BfS) zeigt. Die Situation verschärft sich, wenn man alleinstehend ist. Wie Frau Leisi. Dem viel zu frühen Tod ihres Mannes ging eine Zeit voraus, in der sie nur ein wenig hat arbeiten können und damit weder eine 2. noch eine 3. Säule hätte aufbauen können. «Oft haben diese Menschen im früheren Leben Schicksalsschläge erlitten, die auf ihre finanzielle Situation im Alter Einfluss haben», weiss Schindler und nennt weitere namenlose Beispiele aus der Region. Das BfS geht davon aus, dass schweizweit über 200’000 Personen betroffen sind. Armutsgefährdet sind gar 280’000. Sie weisen aber auch darauf hin, dass ein guter Teil davon finanzielle Reserven hat und deshalb nicht in die Armut fällt. Wie viele Menschen knapp über der Berechtigung für Ergänzungsleistungen leben und trotzdem kaum über die Runden kommen oder wie viele sich nicht zu melden getrauen, kann niemand beziffern. Frau Leisi bleibt auch hier unsichtbar.

Die Organisationen
Wie kann man helfen? Zum einen bleiben Menschen oft unentdeckt, gerade in grösseren Überbauungen oder grösseren Ortschaften. Zum anderen ist die Hemmschwelle, um nach Hilfe zu fragen sehr gross. «Ich rate davon ab, Menschen direkt Geld zu geben. Sie schämen sich oft. Besser wäre eine Organisation zu unterstützen, die sich dann um die Betroffenen kümmern kann», rät Schindler. Natürlich ist «Pro Senectute» eine der wichtigsten Institutionen für Altersfragen. Die Geschäftsführerin nennt aber auch noch weitere, darunter «Surprise». «Gerade bei Menschen mit Migrationshintergrund sind sie sehr stark», lobt sie diese Organisation.

Ein Verfassungsauftrag
Wie kommt es so weit, dass die relativ reiche Schweiz mit 13,6 Prozent Altersarmut plus jenen, die nicht mal erkannt werden, im internationalen Vergleich der OECD traurig weit oben in der Liste auftaucht? Ein Teil der Antwort liegt in der Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Die Stärkung der 2. und 3. Säule liess viele Menschen quasi auf der Strecke zurückbleiben. Frau Leisi etwa hatte nie die Möglichkeit, Gelder über diese beiden Säulen zu generieren, und muss einzig und allein mit der AHV-Rente auskommen. Wenn wir einen Blick in die Bundesverfassung werfen, ist diese Entwicklung mindestens fragwürdig. Artikel 112 besagt, die AHV muss «den Existenzbedarf angemessen decken». Artikel 111 verpflichtet den Bund dafür zu sorgen, dass die AHV «ihren Zweck dauernd erfüllen kann.» Verfassungsrechtlich lautet also der Auftrag, dass die AHV die Altersarmut verhindern soll und zwar ohne Ergänzungen.

Ein Lösungsansatz
«Die AHV muss die Existenzsicherung gewährleisten», sagt Heinz Gilomen. Er ist Mitglied der Geschäftsleitung SP60+ und damit Teil einer Gruppierung, die eine AVH-Rente von 4000 Franken für alle fordert. Zur Finanzierung dieser deutlichen Stärkung der 1. Säule sollen Gewinnausschüttungen der Unternehmen AHV-pflichtig werden. «Das 3-Säulenprinzip bleibt für viele Menschen reine Theorie. Wir fordern deshalb zusätzlich, dass die Lohnprozente, die heute in die wenig soziale 2. Säule einbezahlt werden, mehrheitlich der AHV zukommen», erklärt Gilomen, wie man diese Forderung finanzieren möchte. Noch hat die SP selber diesen Antrag nicht behandelt, noch steht die Idee ganz am Anfang. Dass dieses Vorhaben aber politisch hohe Wellen schlagen dürfte und die mächtigen Pensionskassen sich nicht ohne weiteres schwächen lassen, ist klar. Anderseits haben die politischen Versuche, die AHV zu sanieren, dem verfassungsrechtlichen Auftrag erstaunlich wenig Bedeutung geschenkt. Für Frau Leisi ist dieser Lösungsansatz noch in weiter Ferne. 2 bis 3 Jahre dürfte der Prozess dauern, bis dieser Vorschlag die politischen Mühlen durchlaufen hat, ohne Aussicht auf Erfolg. Ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre für Gilomen aber zumindest schon mal eine
13. AHV-Rente. Ein Vorschlag, der bereits etwas weiter ist und demnächst behandelt wird.

Bald ist Weihnachten. Für Frau Leisi eine schwere Zeit. Immerzu flimmern die Werbebilder von Freunden und Familien, die an reichbefrachteten Tischen sitzen, über den Bildschirm. Sie wird keine Familie treffen können, es war ihr zeitlebens verwehrt, Kinder zu bekommen. Was sie allerdings seit Oktober gemacht hat, ist das Essensgeld zu rationieren. Die 50 Franken, die sie gespart hat, sind für ein gutes Stück Fleisch und ein wenig Schokolade vorgesehen. Schliesslich sind es ja Festtage. Für sie klingt es fast ein wenig paradox: Alters­armut ist statistisch weder ein Problem, das im Moment eskaliert, noch eines, wofür es keine Lösungen gäbe. Für jede einzelne Person, die jedoch davon betroffen ist, sind diese Tatsachen wenig wichtig. Ihnen bleibt mitten in der Schweiz, mitten unter uns, ein würdiges Leben verwehrt.

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