Wird der Volksschule zu Recht die Schuld für diesen Notstand zugeschoben oder ist sie einmal mehr verantwortlich für gesellschaftliche und (bildungs-)politische Missstände, für die sie wenig bis gar nichts kann? Gerade bei Schuldzuweisungen aus der parteipolitischen Ecke ist Vorsicht geboten – wie sich unlängst in einem parteipolitischen Positionspapier mit der Forderung nach Abschaffung der «Integrativen Schule» zeigte. War es nicht 2010 die Politik, die sich wider besseren Wissens bei der Einführung der «Schule für alle» weigerte, die erforderlichen finanziellen Ressourcen bereitzustellen?
Trend zu Teilzeitpensen
Über Jahre hinweg wurde behauptet, dass Lehrpersonen, die ihrem Beruf den Rücken kehren, hauptverantwortlich für den akuten Lehrkräftemangel seien. Doch 2022 konnte das Bundesamt für Statistik BFS in der Langzeitstudie «Verbleib der Lehrkräfte an der obligatorischen Schule» aufzeigen, dass Lehrpersonen deutlich länger in ihrem Beruf verweilen als bislang vermutet wurde. Als Hauptgrund für den Lehrkräftemangel weist die BSF-Studie auf den steigenden Trend zu Teilzeitpensen hin: Teilzeitarbeit mache den Lehrberuf zwar attraktiv, trage aber auch dazu bei, dass im Schuldienst zu wenig Lehrpersonen mit hohen Pensen arbeiten. Besorgniserregend ist die langfristige Prognose, welche die Studie aufzeigt: In den nächsten Jahren wird sich der Lehrkräftemangel weiter verschärfen. Als wirksame Gegenmassnahme müsste bis 2031 die Anzahl der Lehrkräfte, die mit höheren Pensen arbeiten, um mindestens sechs Prozent steigen. Stefan Wolter, Bildungsökonom der Universität Bern, bringt es auf den Punkt: «Das Problem besteht darin, dass wir zwei bis drei Lehrpersonen ausbilden müssen, um eine Vollzeit tätige Lehrperson im Schulzimmer zu haben.»
Köniz verbietet Smartphones
Sie verursache zu viel Stress, ist ein oft gehörter Vorwurf an die Volksschule. Niels Lang, Schulleiter an den Schulen Wangental und Co-Präsident des Berufsverbandes Schulleitungen Bern VSL, hält dagegen: «Neben der Schule gibt es weitere Faktoren gesellschaftlicher Natur, die Stress verursachen. Die Diskussion, wie viel davon beispielsweise der Smartphone-Problematik geschuldet ist, läuft momentan auf Hochtouren. Unbestritten ist, dass hier Eltern zwingend in die Verantwortung genommen werden müssten. Studien belegen, dass gerade überbehütende Eltern oft keine Ahnung haben, wozu ihre Kinder ihr Smartphone gebrauchen.»
Köniz hat als eine der ersten Schweizer Gemeinden Anfang Februar ein generelles Handyverbot für alle Schülerinnen und Schüler erlassen. Sie müssen ihre Smartphones vor dem Unterricht bei der Lehrperson abgeben und dürfen sie erst nach Schulschluss wieder abholen. Ein Schritt in die richtige Richtung, wie eine Mutter in einem Beitrag im Regionalfernsehen «Telebärn» betont: «Das Verbot gibt klare Richtlinien vor und ist für uns Eltern nun einfach zu kommunizieren.»
Die Krux mit der Selektion
Der Auftrag an die Volksschule, junge Menschen zu fördern und gleichzeitig in verschiedene Niveaus einzuteilen, ist ein erheblicher Stressfaktor für Lehrpersonen. Dazu Niels Lang: «Die förderorientierte Beurteilung ist ein Bildungspolitikum. Die Selektion ist Teil dieses Auftrages, da hat die Schule keine andere Wahl. Seit dem Schuljahr 2004/05 werden dank der Einführung der Lernziele Schülerinnen und Schüler immerhin transparent an das herangeführt, worüber sie geprüft werden.»
Weniger Hektik und Stress in der Ganztagsschule
Dafür, dass Ganztagsstrukturen geeignet sind, Stress im Schulalltag zu vermindern, liefert seit viereinhalb Jahren die GanzTagesSchule Wabern gute Argumente. Aktuell steht sie 62 Kindern am Montag, Dienstag und Donnerstag von 8.20 bis 16 Uhr und am Mittwoch und Freitag bis 11.50 Uhr offen. Die übrigen Zeiten von 7 bis 18 Uhr können von den Eltern freiwillig gebucht werden. Grundidee ist die Verknüpfung von Unterricht und Betreuung an einem Standort. Alle Lehrpersonen leisten zusätzlich zu ihren Unterrichtspensen auch Betreuungsarbeit, um den Kindern ein stabiles Umfeld zu ermöglichen. Die Einteilung ihrer Mittagszeit übernehmen diese selbständig und bedürfnisorientiert, wie Tagesschulleiterin Barbara Scheidegger ausführt: «Einige verspüren um 12 Uhr bereits grossen Appetit und gehen ins Kinderrestaurant, während andere zuerst lieber an die frische Luft, in unsere ‹Oase› oder in den ‹Kreativ-Raum› gehen wollen.»
Sinkende Chancengleichheit – Köniz hält dagegen
Die Nachrichten- und Informationsplattform «SWI swissinfo.ch» gibt der Chancengleichheit im Schweizer Bildungssystem 2022 ungenügende Noten: «Wer in der Schweiz aus einem armen und bildungsfernen Elternhaus stammt, hat schlechte Karten.» Keine guten Nachrichten für das Schweizer Bildungssystem – umso mehr, als der Trend zu teurer, privater Nachhilfe weiterhin ungebremst ansteigt. Es wird davon ausgegangen, dass in der Oberstufe (7. – 9. Klasse) mittlerweile mehr als die Hälfte der Jugendlichen private Lernförderung in Anspruch nimmt. Familien mit bescheidenem Einkommen können sich jedoch die Lernförderung von 50 Franken und mehr pro Stunde nicht leisten. Umso bemerkenswerter, dass das nicht gewinnorientierte Nachhilfe-Institut «Learn4Life» in Köniz und Ostermundigen professionelle Lernförderung zum Preis von 17.50 Franken pro Lektion anbietet. Bei Familien mit Anspruch auf Sozialhilfe übernehmen die Gemeinde Köniz und auch andere Gemeinden bis 85 % dieses Betrages.
Besteht die Chance, dass das Könizer Beispiel im Sinne der Chancengleichheit bald einmal auch in anderen Landesteilen Schule macht? Learn4Life-Geschäftsleiter Stefan Stuck gibt sich zuversichtlich: «Aktuell laufen die Abklärungen für einen neuen Standort in Bern-West, dessen Eröffnung noch dieses Jahr geplant ist. Damit machen wir wichtige Schritte in Richtung unserer Vision, irgendeinmal für Schülerinnen und Schüler der ganzen Schweiz zur Verfügung zu stehen.»
Könizer Lehrstellennetz verbindet Schule und Arbeitswelt
Die Volksschule ist zunehmend auch von Seiten der Wirtschaft unter Druck geraten. Lehrbetriebe klagen, dass die Schulzeugnisse, die Jugendliche der 8. Klasse ihren Lehrstellen-Bewerbungen beilegen, teilweise wenig aussagekräftig seien. Verschiedene Berufsverbände führen deshalb eigene Eignungstest durch. Das Problem scheint an der schwierigen Kommunikation zwischen der Volksschule und der Wirtschaft zu liegen. Das 2012 vom gleichnamigen Verein gegründete Könizer «Lehrstellennetz» ist in diesem Spannungsfeld seit Jahren mit zahlreichen analogen und digitalen Angeboten unterwegs: An der nächsten «Lehrstellenbörse», dem traditionellen Bewerbungsgesprächstraining für Achtklässlerinnen und Achtklässler, werden am 28. Februar in den Sporthallen Weissenstein wieder rund 1500 Schülerinnen und Schüler von einem ersten persönlichen Austausch mit gegen 60 Lehrbetrieben profitieren. Im Rahmen des Schnupperangebots «Eltern@Wirtschaft» lernen Kinder im Berufswahlalter gemeinsam mit ihren Eltern jeweils einen Betrieb ihrer Wahl genauer kennen.
Auf der Online-Plattform «Lehrberufe Live!» haben Lehrpersonen mit ihren Schulklassen Einblick in die ganze Breite der Schweizer Berufswelten. Einige tausend Interessierte waren im Dezember 2024 zugeschaltet, als Lernenden aus über 20 Berufen beim Arbeiten zugeschaut und im Live-Chat Fragen zu ihrem Berufsalltag gestellt werden konnte. Die Online-Plattform wird dieses Jahr am 13. März, 7. Mai, 10. September und 2. Dezember durchgeführt. Zudem können sich Jugendliche, die trotz allen Bemühungen im Sommer dieses Jahres noch auf Lehrstellensuche sind, für die «Last Call Lehrstelle 2025» vom 21. Mai und 18. Juni anmelden. Dabei werden sie per Video-Call mit Verantwortlichen von Lehrbetrieben verbunden. Welches Fazit zieht Michael Raaflaub, Geschäftsleiter des Vereins Lehrstellennetz, nach 12 Jahren im Dienste der Kommunikation zwischen Schule und Arbeitswelt? «Viele Schülerinnen und Schüler, die während der Schulzeit nicht nur mit Bestleistungen aufgefallen sind, blühen während der Lehre auf. Dies hängt mit der hohen Selbstwirksamkeit zusammen, die Lernende während der Ausbildung erleben. Das Resultat eigener Arbeit zu sehen und dafür positive Rückmeldung zu erhalten, bewirkt Wunder», so Raaflaub. An dem von Bund und Kanton Bern mitfinanzierten Lehrstellennetz sind über 100 Betriebe, Organisationen, Schulen, Brückenanbieter und als wichtige Partner die kantonalen Berufs- und Informationszentren BIZ beteiligt.
Fazit
Die Volksschule steht unter Druck von Medien, Politik und Wirtschaft. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass viele Herausforderungen gesellschaftliche Ursachen haben, die entsprechend nach ganzheitlichen Lösungen verlangen. Etwa gezielte Bildungsinvestitionen und stärkere Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren. Daneben zeigen Initiativen wie die oben genannten, dass auch lokale oder regionale Projekte durchaus Gutes bewirken und Inspiration für weitere Gemeinden bieten können.