Säen, jäten – und Lösungsansätze ernten

Säen, jäten – und Lösungsansätze ernten

«Bühnen Bern» zeigt in den Vidmarhallen ein Dokumentartheater, in dem die Zuschauenden Teil des Stücks werden. Es geht mit Welthunger um die ganz grossen Fragen. Erarbeitet wurde es unter anderem in Wallenbuch.

«Während der Dauer dieser Vorstellung werden rund 1800 Menschen an Hunger sterben.» Die Stimme aus dem Off holt das Premierenpublikum jäh zurück in die Realität. Gerade eben waren die Besuchenden noch staunend durch den Raum (Bühne: Michael Köpke) gewandelt: Ein grosser Gemüse- und Kräutergarten verteilt auf verschiedene Stationen lässt die Vidmar 1 nämlich als kleines Paradies erscheinen. Überall spriesst und duftet es. Den Kontrast bilden Leinwände und Lautsprecher, die die Aussenwelt via Bild- und Tonaufnahmen hineintransportieren. Mittendrin bewegen sich sechs Schauspielerinnen und Schauspieler. Sie führen die Besuchenden auf Gruppen verteilt an die Stationen und leiten sie den Abend hindurch immer wieder an: Mal werden Sämchen herausgeschält, mal Brennnesseljauche ausgebracht oder einem eindringlich vorgetragenen Monolog gelauscht. Die Darstellenden schlüpfen immer wieder in Rollen – von Lobbyisten über Naturwesen bis zur Aktivistin.

Von Wallenbuch bis Welthunger

Warum gibt es so viel Hunger in einer Welt des Überflusses? «Bühnen Bern» hat sich mit der Produktion «Hunger. Ein Feldversuch» eine der grossen Fragen vorgenommen. Regisseur Gernot Grünewald und sein Team führten im Vorfeld umfassende Recherchen durch. Interviews mit Pestizidherstellern, mit Bäuerinnen aus Honduras, mit Jean Ziegler oder mit NGOs. Sie alle haben einen Schweizbezug. Das Ensemble verbrachte auch einige Tage auf den Gemüsefeldern des Projekts «TaPatate» im freiburgischen Wallenbuch – im Verteilgebiet dieser Zeitung. «Wir erzählen nicht im eigentlichen Sinne eine Geschichte, sondern haben uns dokumentarisch einem hochkomplexen Thema genähert», erklärt der Regisseur. «Wir haben zahlreiche Interviews mit Expertinnen und Experten zum Thema Nahrung geführt, haben die Ergebnisse zu Monologen verdichtet und daraus eine theatrale Vision entwickelt», zeigt er die Vorarbeit auf. Das Publikum erlebt die künstlerische Umsetzung der gesammelten Eindrücke. «Mit diesen Erfahrungen schicken wir die Zuschauenden zurück in die Wirklichkeit – mit der Hoffnung, dass sich in ihnen und durch sie etwas bewegt», so Grünewald. Er tut das nicht mit trockener Faktenvermittlung, denn Kunst sei «hoch sinnlich». «Der Wunsch für dieses Projekt war, dass die Zuschauenden mitinvolviert sind.» Daher die Palettenhochbeete mit den vielen Pflanzen. Die Idee dahinter: «Wir bringen eine Utopie auf die Bühne, in der wir die Welt und uns als einen grossen Organismus verstehen.» Beim Säen, Giessen oder Jäten denke man eventuell über die Gesamtproblematik nach. Man höre die Monologe der Schauspielenden zur Hungerproblematik, die Erlebnisberichte von Bäuerinnen aus fernen Ländern, während man von einem alle ernährenden, wunderschönen Garten umgeben sei. «Am Ende wollen wir die Leute nicht einfach entlassen. Sie sollen sich Fragen stellen und aktiviert fühlen», so sein Wunsch. 

«Veränderung ist möglich»

Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter 10 Jahren. Von den weltweit 71 Mio. Verstorbenen pro Jahr lautet bei 18% die Todesursache «Hunger». Dabei stellte die UNO bereits vor zehn Jahren fest: «Hunger ist das grösste lösbare Problem der Welt.» Denn die aktuell 7,9 Mia. Menschen auf der Erde könnten rein rechnerisch ausreichend mit Kalorien versorgt werden: Es wird genug Nahrung produziert, um 12 Mia. Menschen ernähren zu können. «Ein Grossteil davon endet in den Mägen von Nutztieren oder als Biotreibstoff», erklärt ein Schauspieler am Abend. Rund ein Drittel der globalen Ackerfläche wird zum Anbau von Futtermitteln genutzt – im Schnitt ergeben sieben pflanzliche Kalorien aber bloss eine tierische Kalorie. Ein UN-Bericht hielt 2009 fest: Würden jährlich nicht mehr als 37,4 kg Fleisch pro Kopf konsumiert, könnten etwa 400 Mio. Kilogramm Getreide für die menschliche Ernährung freigesetzt werden – genug, um 1,2 Mia. Menschen mit ausreichend Kalorien zu versorgen. Zum Vergleich: In der Schweiz wurden letztes Jahr knapp 52 kg Fleisch pro Person gegessen. Gernot Grünewald ordnet ein: «Es geht schlussendlich auch um Gesellschaftsutopien – um die Reflektion unserer Lebens- und Denkweise.» Er möchte die Zuschauenden nicht durch Dystopie lähmen. «Jede und jeder kann Schritte unternehmen, um auch ein Problem dieser Grösse anzugehen. Veränderung ist immer möglich.» In dieselbe Kerbe schlägt während der Vorführung eine Schauspielerin. Sie erwähnt das «Nudging», das «Anstupsen». Wenn Einzelne sich von etwas berühren liessen, ihre Gewohnheiten änderten – anders einkaufen etwa – und gleichzeitig auch ihr Umfeld inspirierten, dann sei ein gesellschaftlicher Wandel möglich.  Angefangen beim Publikum können die im Liebefeld erzeugten Wellen so immer grössere Kreise ziehen. Grünewald und sein Team lancierten also im wahrsten Sinn des Wortes einen Feldversuch. 

INFO:

«Hunger. Ein Feldversuch» läuft noch bis am 21. Dezember in der Vidmar 1. 
Am 2. November gibt es 50% Ermässigung.

 www.buehnenbern.ch 

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