«Stereotypen werden dann problematisch, wenn sie sich in Vorurteile oder sogar in Feindbilder verfestigen», beginnt Klaus Petrus. Seine klaren, wachen Augen haben viel gesehen. Vieles, was sich kaum in Worte fassen lässt – also lässt er lieber Bilder für sich sprechen. Sein Bildband «Spuren der Flucht» geht unter die Haut. Auf 192 Seiten dokumentieren Schwarzweiss-Fotos den Alltag von Menschen auf der Flucht, quer durch den Balkan in EU-Staaten und in die Schweiz. Fotos, die berühren, die zum Nachdenken anregen, die aufwühlen, aber die manchmal auch ein Schmunzeln hervorbringen. «Hörst du das Wort Flüchtling, hast du automatisch ein Bild im Kopf», so Petrus. «Ein Mensch, der in zerlumpten Kleidern vor einer verlotterten Baracke steht. Die Umgebung ist dreckig und aus den Augen spricht die Verzweiflung. Das sind die Bilder, die hier meistens bei uns ankommen. Und während diese durchaus die Realität zeigen, ist es aber nicht die einzige.»
Menschen wie du und ich
Klaus Petrus sieht sich als Geschichtenerzähler, und so macht er sich immer wieder auf, Geschichten von Menschen mit seiner Kamera festzuhalten. Dafür geht er dorthin, wo diese stattfinden, dorthin, wo es nicht selten unbequem wird. Armut, Ausgrenzung, Migration und Kriege sind zentrale Punkte seiner Arbeit, damit verbunden Themen wie Rassismus, Voreingenommenheit und gesellschaftliche Ablehnung. «Grenzen haben mich immer schon umgetrieben, seien es geografische Grenzen oder die Grenzen in den Köpfen der Menschen.»
Solo und mit leichtem Gepäck reiste er für sein Projekt «Spuren der Flucht» in den Balkan. Er lebte zusammen mit Migrantinnen und Migranten in Baracken und Ruinen, begleitete Familien, überquerte mit Geflüchteten Grenzen, dokumentierte die Gewalt der Grenzpolizisten – und erlebte dabei trotz allem viel Menschlichkeit, Alltägliches und Normales. «In unserem Verständnis über Geflüchtete blenden wir häufig eines aus, nämlich, dass es Menschen wie du und ich sind. Menschen, die einen Beruf haben, die Hobbys nachgehen, einen Lieblingssong und ein Lieblingsessen haben», so Petrus, und erzählt von Abdullah, einem Journalisten aus Pakistan, der Spaghetti in sämtlichen Variationen über alles liebt. Der als kleiner Junge eine Plastikkamera fand und daraufhin nach westlichem Vorbild rasender Reporter spielte, bis er eines Tages wirklich Journalist wurde. Petrus erzählt von Gesprächen über Sehnsüchte und Träume, über Ängste und die Liebe. «Ich fragte Abdullah: Wie würdest du Fluchtgeschichten erzählen? Woraufhin er mir entgegnete: ‹Ich würde vor allem den Menschen ins Zentrum stellen, und nicht den Flüchtling›.»
Wechsel zwischen Welten
Doch: Was Menschen auf der Flucht durchmachen, lässt sich nicht schönreden. Krieg, Verfolgung, Armut und Ausgrenzung gehören zum alltäglichen Bild, das sich in den Camps an den Landesgrenzen zeigt. Die Reise in die vermeintliche «Freiheit» ist gefährlich und mitunter endlos lang. «Ich habe es erlebt, dass ich ein Camp besuchte, abreiste, zwei Jahre später wiederkam und die gleichen Leute angetroffen habe», erinnert sich Petrus. «Und es ist auch vorgekommen, dass ich Menschen fotografiert habe, die bei meiner Rückkehr nicht mehr am Leben waren.» Klaus Petrus’ Arbeit ist ein steter Wechsel zwischen Welten. Ist es da überhaupt möglich, wieder zuhause in der vertrauten, sicheren Umgebung so etwas wie einem Alltag nachzugehen? «Die Fotografie ist ein gutes Instrument, das Gesehene und Erlebte zu verarbeiten», so seine Antwort. «Es ist eine gute Mischung aus Distanz gewinnen und sich wieder annähern, ohne jedoch vor Ort zu sein, wo noch viele zusätzliche Sinneseindrücke auf mich einprasseln. Durch die Verarbeitung der Bilder finde ich schnell in einen produktiven Alltag. Ich bin nicht abgebrüht, aber ein professionelles Abgrenzen ist wichtig.»
Angekommen – oder auch nicht
Das Führen eines gewöhnlichen Alltags, wie wir es verstehen – eine Sache, die sich für Geflüchtete, wenn sie es denn über eine Grenze geschafft haben, oft sehr schwierig gestaltet. «Das Konzept des Ankommens ist seltsam», findet Petrus. «Wir denken hier oft, dass sich die Sache erledigt hat und alles gut ist, sobald Menschen auf der Flucht wieder vermeintlich sicheren Boden unter den Füssen haben. Doch häufig geraten diese Menschen dann in eine Mühle an Behördengängen. Es ist stets ein Pokerspiel zwischen Erfolg und Misserfolg. Verzögerung ist das Schlimmste, wenn es darum geht, ankommen zu können.»
«Spuren der Flucht» ist mehr als ein Bildband – es ist eine Aufforderung, genauer hinzusehen. Die Geschichten, die Petrus erzählt, fordern uns heraus, unsere Wahrnehmung zu hinterfragen und Empathie über Klischees zu stellen. Denn Flucht endet nicht mit dem Überqueren einer Grenze, und Ankommen ist mehr als eine räumliche Veränderung. Es bedeutet, in einer neuen Realität bestehen zu müssen – oft ohne Sicherheit, ohne Plan, ohne Gewissheit. Petrus’ Bilder erinnern uns daran, dass hinter jeder Statistik ein Mensch steht. Ein Mensch mit Erinnerungen, mit Hoffnungen, mit einem Lieblingsessen – und mit einem Recht auf Würde.
INFO:
Ausstellung Spuren der Flucht
14. – 23. März, Kulturhof Schloss Köniz
Vernissage: 14. März, 18 Uhr
www.kulturhof.ch
Buch bestellen: www.klauspetrus.ch