In der Schweiz leben rund 6000 Armenierinnen und Armenier. Sie verbindet nebst ihrer Nationalität ein tragisches Kapitel armenischer Geschichte, das am 24. April 1915 mit dem Völkermord an den Armenierinnen und Armeniern in der heutigen Türkei seinen Anfang nahm und in dessen Folge 1,5 Millionen Menschen starben und Hunderttausende flüchten mussten. «Familien wurden auseinandergerissen und in alle Welt verstreut – oft ohne voneinander zu wissen», sagt Manuschak Karnusian, Tochter eines Armeniers und einer Schweizerin. «Wer heute als Armenier in der Schweiz lebt, hat Eltern, Grosseltern oder Urgrosseltern, die einen Völkermord überlebt haben, die vertrieben wurden, neu angefangen haben und irgendwann in die Schweiz gekommen sind.» Ihre Vorfahren väterlicherseits gehörten ebenfalls zu den Armeniern, die als Flüchtlinge im Libanon lebten. Ihr Vater kam fürs Studium in die Schweiz. Manuschak Karnusian wuchs in Gstaad mit vier Geschwistern auf – «und mit den spärlichen Erzählungen meines Vaters über den Genozid an den Armeniern und deren schrecklichen Folgen», ergänzt sie. Erst mit dem Tod ihres Vaters vor ein paar Jahren habe sie begonnen, sich verstärkt mit der Geschichte des armenischen Volkes auseinanderzusetzen. «Als Kind wollte ich schlichtweg nicht mit solch traurigen Ereignissen konfrontiert werden. Und als junge Erwachsene habe ich mich davon distanziert», erklärt Karnusian, die eine Lehre als Buchhändlerin machte und später als Flight Attendant bei der Swissair arbeitete. Nach einem Volontariat bei der «Berner Zeitung» und einer Anstellung bei der Tessiner Zeitung, führte sie mit ihrem Partner Jürg Steiner ein Medienbüro im Tessin und brachte im «Marco Polo Verlag» gemeinsam mit ihm zwei Reiseführer heraus (über das Tessin und die Oberitalienischen Seen).
Nach ihrer Rückkehr aus dem Tessin verschlug es die beiden in die Siedung Strassweid. Seit 14 Jahren leben sie gemeinsam mit ihrer Tochter (13) und ihrem Sohn (21) in der Idylle Mittelhäuserns. Die Idee, ein Buch über die Armenier zu schreiben, reifte langsam; vor gut einem Jahr setzte sie den Entschluss dann aber in Expresszeit um. «Das Buch sollte im April 2015 erscheinen, da sich Ende des Monats der Genozid zum 100. Mal jährt», begründet die 55-Jährige.
«Wissen andere mehr?»
Für ihr Projekt hat Manuschak Karnusian mit Frauen und Männern jeglichen Alters und unterschiedlichster Herkunft gesprochen. «Der Genozid und dessen Leugnung sind für jede dieser Familiengeschichten belastend», betont die Autorin. «Aber was genau bedeuten sie für die armenische Identität? Und woran orientiert sich heute das Bewusstsein von Armenierinnen und Armeniern? Und wissen sie genauso wenig über ihre Familiengeschichte wie ich?» Diesen Fragen ging sie in den Gesprächen mit den Protagonisten nach. Entstanden sind zwölf von Alexander Egger bebilderte Porträts über Armenierinnen und Armenier in der Schweiz, angereichert mit Texten von Jürg Steiner zu Geschichte, Kultur und Politik, herausgegeben im Stämpfli Verlag unter dem Titel «Unsere Wurzeln, unser Leben». Unter anderem wird darin ein Armenier aus Ägypten porträtiert, der aus Dankbarkeit Geheimagent wurde, eine Archäologie-Studentin aus Syrien, deren Krieg in ihrem Heimatland ihr Leben verändert hat, oder ein Manager aus Frankreich, der dank des Spirits seines Grossvaters ohne Geld ein Grossprojekt auf die Beine gestellt hat.
Das Buch ist für Manuschak Karnusian erst der Anfang ihrer Suche nach den eigenen armenischen Wurzeln sowie der Frage nach der armenischen Identität. «Die einzelnen Geschichten sind wie Mosaiksteine; daraus ergeben sich die Antworten.» Um weitere solche Puzzlestücke zusammensetzen zu können, haben sie und ihr Partner die Plattform
www.armenier.ch eingerichtet, um dort weitere Geschichten entgegenzunehmen und zu publizieren – sodass sich die Mosaiksteine mit der Zeit zu einem ganzheitlichen Bild zusammenfügen lassen.