«Vertrauen geben im Unvertrauten»

«Vertrauen geben im Unvertrauten»

Jeder und jede von uns wurde geboren. Die Geschichten dazu könnten unterschiedlicher nicht sein: schmerzvoll und traumatisch oder kraftvoll und friedlich. Im Spital, im Geburtshaus oder daheim. Hebammen als «Fachfrauen für Mutterschaft» spielen dabei die zentrale Rolle.

Ein Kind wächst während 40 Wochen vom befruchteten Ei zum lebensfähigen Baby heran, im warmen Bauch, stets begleitet vom mütterlichen Herzschlag und Darmgemurmel. Bis die Geburt losgeht: Die Muskelstränge der Gebärmutter beginnen zu arbeiten und schieben das kleine Menschlein hinunter, der Aussenwelt entgegen. Wird es von den Händen des Vaters erwartet und gleich warm eingepackt, muss es zuerst untersucht werden und kann erst danach zur Mutter? Wird es durch die aufgeschnittene Bauchdecke gehoben oder gleitet es ins Wasser? So verschieden Geburten sind, etwas ist ihnen gemein: Fast immer ist eine Hebamme anwesend.

Aufschrei in Riggisberg
Vor neun Jahren, am 1. Juli 2013, wurde die Geburtenabteilung des Spitals Riggisberg geschlossen. Der Aufschrei in der Bevölkerung war riesig – die Station war weitherum bekannt für ihre persönliche, natürliche Atmosphäre. Exemplarisch dafür stand etwa der Parkettboden mit Holz aus den Wäldern der Umgebung. Seit letztem August fällt auch Münsingen als Option weg – werdende Eltern aus der Region müssen nun für eine Spitalgeburt nach Bern, Thun oder Freiburg fahren. Katharina Jenzer war während sieben Jahren leitende Hebamme in Riggisberg. «Die Haltung, die wir Hebammen und Gynäkologen in Riggisberg vertraten, trugen wir nach der Schliessung mit uns in die ganze Region hinaus.» Jenzer sieht also durchaus auch das Positive, das sich aus dem Verlust entwickelt hat. Seit zehn Jahren ist sie selbständig tätig und betreut Familien von Thun bis Bern, vom Gantrisch bis ins Sensetal. Als Beleghebamme hilft sie ihren Klientinnen, im Spital Thun oder im Freiburger Geburtshaus «Petit Prince» zu gebären. Rund drei bis vier solche Geburten betreut sie pro Monat. Dazu kommen fünf bis sieben geplante Hausgeburten pro Jahr.

Kontinuität statt Mangel
In den letzten Monaten wiesen mehrere Medienberichte auf einen sich verschärfenden Hebammenmangel hin. Obwohl sämtliche Ausbildungsplätze immer besetzt seien, reiche die Zahl der Absolventinnen nicht aus, um die vielen erfahrenen Fachfrauen zu ersetzen, die bald in Pension gehen oder nur noch Teilzeit arbeiten. Gerade in ländlichen Regionen kann es darum schwierig sein, eine Hebamme zu finden, die lange Anfahrtswege auf sich nimmt. In den Spitälern wiederum fehlt oft Personal, um während einer Geburt eine 1:1-Betreuung zu bieten. Mit ein Grund, warum sich Hebammen wie Katharina Jenzer für den freiberuflichen Weg entschieden haben: «Ich schätze die Kontinuität, die sich ergibt, wenn ich eine Frau von Anfang Schwangerschaft bis Ende Wochenbett die ganze Zeit über begleite.» Rund ein Jahr ergebe das – im Kontrast zu den wenigen Stunden, die man im Gebärsaal einer Klinik mit einer Frau verbringe.

Vertrauensbeziehung
Was Jenzer wichtig ist, bringt auch ihren Klientinnen einen Mehrwert. Sie lernen ihre Hebamme nicht erst beim Spitaleintritt, in der Ausnahmesituation einer Geburt kennen, sondern bereits Monate zuvor. Das wirke sich auch hormonell aus, erläutert sie: «Bei einer Geburt geht es ums Loslassen, und dafür braucht es Vertrauen. Der richtige Mix aus Oxytocin, Endorphin und ein bisschen Adrenalin ermöglicht das Öffnen des Muttermundes. Kommt aber eine fremde Person dazu, die einem vielleicht nicht auf Anhieb sympathisch ist, kann das Adrenalin überhandnehmen, was einen natürlichen Geburtsvorgang erschwert.» Sie ist überzeugt: «Frauen, die ihre Hebammen schon während der Schwangerschaft kennenlernen, brauchen während der Geburt weniger Interventionen.» Das mache ihren Job aus: «Ich kann den Frauen in dem vielen Unvertrauten ein Stück Vertrautheit geben.» Sie wolle den Frauen Kompetenz zusprechen und sie in schwierigen Situationen ernst nehmen.

Seltene, aber sichere Hausgeburten
Schweizweit gesehen gebären rund 1% aller Frauen zuhause, wenig mehr im Geburtshaus. Die Mehrheit zieht die Infrastruktur und ärztliche Betreuung eines Spitals vor, gut 30% der Entbindungen sind Kaiserschnitte. Dabei belegt die aktuelle Studienlage deutlich: Unter den richtigen Voraussetzungen ist eine Hausgeburt ebenso sicher wie eine Spitalgeburt, auch wenn gegen die Schmerzen weder Periduralanästhesie noch Lachgas möglich sind. Sie sind auch weniger nötig – die vertraute Umgebung und der kleine Kreis der Anwesenden, meist nur der Partner und die Hebammen, erleichtern der Gebärenden die Reise durch die Kontraktionen. Für die Sicherheit ist besser gesorgt als gemeinhin angenommen: Eine der Hebammen schaut im Notfall zur Frau, die andere zum Kind; Sauerstoff und Notfallutensilien stehen bereit. Zu einem Ernstfall kommt es jedoch selten: «Ich verlege lieber zu früh als zu spät», sagt Jenzer. In den allermeisten Fällen sei das Zur-Welt-Kommen eines Kindes im trauten Daheim «wunderschön». Und wer ausserklinisch gebären möchte, es sich aber daheim nicht vorstellen kann – etwa aufgrund eines ringhörigen Hauses – kann seit Anfang Juli von einem neuen Angebot Gebrauch machen: Die Hebammen Rahel Frösch aus Bümpliz und Cornelia Remund aus Laupen haben in einem Stöckli in Oberwangen eine Geburtspraxis eröffnet. Quasi ein heimeliges Geburtshaus ganz für sich allein, mit den Hebammen des Vertrauens.

Netzwerk für die Region
«Riggisberg» wurde geschlossen, engagierte Fachfrauen für Mutterschaft setzen sich aber überall für ihre Klientinnen ein. So etwa Eliane Nufer. Sie arbeitete im kleinen Pensum im Spital Riggisberg und erlebte die Schliessung hautnah mit. «Viele meiner Kundinnen möchten lieber in einem regionalen Spital gebären als in der Stadt, wo sie die Wege nicht kennen», erzählt sie. Einigen ihrer Berufskolleginnen und ihr war es ein Anliegen, den werdenden Familien aufzuzeigen, welche Bedürfnisse hier abgedeckt werden können. Darum gründeten sie das Netzwerk «Gantrisch-Hebammen.ch». «Es ist schön, darauf hinweisen zu können, dass etwa Akupunktur während der Schwangerschaft auch in der Region Gantrisch angeboten wird», freut sie sich. Und sie betont: «Wir fahren auch in die ‹Chrächen› oder ins Wochenbett auf eine Alp.»

Wer einmal von einer Hebamme betreut wurde, weiss: Sie ist immer für einen da. So romantisch das tönt, so spannungsreich ist es für die Fachfrauen. Sie wollen «ihren Frauen» die Ängste lindern, Fragen beantworten. Doch Blutungen in der Schwangerschaft oder wunde Brustwarzen in der Stillzeit treten nicht immer zu Bürozeiten auf. «Ich habe Tage mit bis zu 20 Anrufen meiner Klientinnen, teilweise auch um 2 Uhr nachts», erzählt Katharina Jenzer. Abrechnen kann sie diese Konsultationen nicht – die Krankenkassen kennen keine Abrechnungsposition dafür. «Doch ich nehme mir die Zeit», betont sie, «denn eine Schwangerschaft, eine Geburt und ein Wochenbett sollten so angstfrei wie nur möglich sein». Vertrauen im Unvertrauten.

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