Ueli Mäder ist ein sympathischer Mann. Der emeritierte Soziologieprofessor, der mit seiner Ledertasche ein wenig aussieht wie eine Mischung aus einem schlanken Günther Grass und einem Lehrer, wird sich in Verlauf seines Vortrags nicht ein einziges Mal hinsetzen, so sehr liegt ihm sein Thema am Herzen. Er hebt seine Bücher in die Luft, gestikuliert und wirkt ein wenig getrieben, vor allem sehr authentisch, wenn er über soziale Ungleichheit spricht, sein Lebensthema, sein Forschungsgebiet. 1968 war er 17 Jahre alt, verweigerte den Militärdienst und begann 4 Jahre später mit einem Soziologie-, Psychologie- und Philosophiestudium an der Universität Basel, der Vater zuerst Metzger, die Mutter Hilfsverkäuferin. Er lebte in einer Kommune, diskutierte die Schriften von Marx, war ein Mitbegründer der linken Partei POCH, promovierte, habilitierte und wurde 1998 zunächst Privatdozent in Basel, 2001 ausserordentlicher Professor in Fribourg und schliesslich 2005 ordentlicher Professor für Soziologie in Basel. Seine Ursprünge aber hat er nie vergessen. Seit Jahrzehnten ist er organisierter Gewerkschafter, ein «Bewegter», wie er sagt, einer, dem die einfachen Leute wichtig sind, der gesellschaftliche Zusammenhalt und die Solidarität. Um zu verstehen, was die Schweiz bewegt, sitzt er mit CEOs und Aufsichtsräten genauso an einem Tisch wie mit LKW-Fahrern und straffällig gewordenen Jugendlichen. Als er am Abend des 10. Mai im Schloss Schwarzenburg seine Bestandsaufnahme der Schweiz präsentiert, so geschah das mit ehrlichem Interesse an den Zuhörern und ganz selbstverständlich in seiner Schweizer Mundart.
Marx verkürzt
«Von Karl Marx meinten wir zu wissen, je schlechter es den Leuten geht, desto eher rebellieren sie», sagt Mäder, aber das war arg verkürzt und stimmt so nicht. «Viele Menschen sagen heute: Wenn es den Reichen schlechter geht, geht es uns auch schlechter!» Für Mäder ist es Anlass zur Sorge, dass sozial benachteiligte Menschen häufig derartige und andere am rechten Spektrum angesiedelte Thesen vertreten. «Populistische Kreise können besser an die Empörung anknüpfen als sozial Engagierte», bedauert er, sieht in der Empörung an sich aber etwas Gutes, denn viel zu viele Menschen verfielen in «resignativen Rückzug». Etliche von Mäders Interviewpartnern betrachteten jedoch ihre missliche Lage zunächst als selbst verschuldet. Wenn sie nämlich bemerkten, dass etwas mit der Gesellschaft nicht stimmt, sagt man ihnen: «Die Zusammenhänge sind ein bisschen zu schwer für Sie zu verstehen», woraufhin sie sich öfters wieder in sich zurückziehen und in resignative Akzeptanz verfallen. «Empörung ist ein Motor zur Veränderung!», findet dagegen Mäder. Wichtig seien allerdings weiterführende Schritte.
Empört euch!
Empörung sei auch angebracht, denn die soziale Schere gehe bei den Vermögen immer weiter auf. Dabei steigt der Reichtum der Schweiz. «Die 300 reichsten Schweizer Familien verfügen über fast 700 Milliarden Dollar, das ist eine Versechsfachung ihres Reichtums in 3 Jahrzehnten!», führt Mäder an. Gleichzeitig aber gäbe es eine grosse Gruppe der sozial Benachteiligten, die von diesem Reichtum nicht profitieren. Das sei ganz eindeutig Verteilungsungerechtigkeit, doch in unserer Zeit der «Durchökonomisierung der Gesellschaft», in der nur das Geld zähle, sei das Verständnis dafür teilweise abhandengekommen, dass den Schwachen geholfen werden muss.
Was ist von den 68ern geblieben?
Was also ist geblieben aus der Zeit der 1968er, die Mäder und sein Publikum überwiegend erlebt haben? Nicht viel, könnte man sagen; Mäders Kommunenbekannte Silvie, die ihren ersten hart erarbeiteten Lohn mit den Worten «Scheiss Kapitalismus!» zerriss, beging später Selbstmord. Wieder andere passten sich an, die Macht des Geldes steht fest wie nie. Einige 68er engagieren sich heute noch, die junge, etwas konsumistische Generation sei aber eine ziemlich pragmatische Generation, durchaus kritisch, aber ohne wehende Fahnen. Engagement finde eher im Privaten statt, etwa, wenn man versuche, allen Widrigkeiten zum Trotz biologisch und regional einzukaufen. Mäder deutet diesen Pragmatismus positiv. Seine eigene Generation hätte ohne ideologische Verhärtung mehr erreichen können. Für eine gerechtere Schweiz brauche es soziale Strukturen, die Stärkung demokratischer Institutionen, um Weltkonzerne effektiver kontrollieren zu können, mehr Verantwortlichkeit auch gegenüber ärmeren Regionen der Erde, Selbstreflexion, globales Denken und regionales Handeln. In den Klimademonstrationen der Schüler sieht er eine Chance auf gesellschaftliche Veränderung und überhaupt könne jeder an seinem Platz wirken. Nach seinem Vortrag wurde Ueli Mäder mit herzlichem Applaus verabschiedet, die Alt-68er trafen sich anschliessend zum Apéro und gingen dann nach Hause. Die gesellschaftliche Debatte hingegen bleibt weiter aus.