Job gekündigt, Haushalt aufgelöst, Material eingelagert – Sabrina Gurtner macht im Frühsommer 2018 keine halben Sachen. Nach langer Planung und Vorbereitung ist es endlich soweit, das grosse Abenteuer kann losgehen. Durch ganz Schweden will die junge Frau wandern, vom Nordkap bis in den Süden des Landes. Anfangs in Begleitung, danach allein, immer dem Europäischen Fernwanderweg E1 nach, der vom nördlichsten Punkt Europas quer durch den Kontinent führt bis in die warmen Regionen Siziliens.
Eine gewagte Idee
Etwas vergleichbar Abenteuerliches hat Sabrina Gurtner noch nie in Angriff genommen. «Ich war immer gerne draussen», erzählt sie. Doch erst in einer schwierigen Lebensphase kam der Gedanke an Wanderungen und Ausflüge in die Natur wieder an die Oberfläche und mit einem Freund nahm die Idee einer längeren Wanderung immer mehr Gestalt an. Auf Facebook stiess sie auf eine Wandercommunity und hörte von zahlreichen Fernwanderwegen auf der ganzen Welt. Einer stach ihr sofort ins Auge: Der E1 quer durch Europa. «Ich wollte immer schon ans Nordkap», strahlt sie, «das war Liebe auf den ersten Blick!» Doch die gesamte Strecke sei planerisch eine zu grosse Herausforderung gewesen. «Ich wusste für mich, das schaffe ich nicht. Ich machte mir selber zu viel Druck.» Doch gemeinsam mit einem Freund, der sie während der ersten Wochen begleiten wollte, packte sie den ersten Teil der Route an und trotz zahlreicher zweifelnder Stimmen flogen die beiden Anfang Mai gut vorbereitet ins norwegische Tromsö.
Nicht nach Plan
Kurz nach Ankunft dann die erste Panne: Der Bus ab Honningsvåg zum Nordkap war bereits abgefahren, verpasst um zehn Minuten. Doch mit Autostopp und einigen Kilometern auf Schusters Rappen gelang der Einstieg dann doch am gleichen Tag. «Es war ein emotionaler Moment, man hat so lange darauf hingearbeitet und dann geht es endlich los», erinnert sich Sabrina Gurtner. Der Enthusiasmus liess sich auch durch die eisigen Temperaturen in der Nacht nicht nehmen. Schlotternd im Schlafsack war an Schlaf nicht zu denken. Die nächsten Tage vergingen mit Wandern, Trampen, Gewöhnung an den neuen Tagesablauf. Leider zeigte sich rasch, dass die beiden Wandervögel unterschiedliche Vorstellungen von ihrer Reise hatten: Sabrina Gurtner wollte zu Fuss durch Schweden, ihr Begleiter liebäugelte mit Autostopp. Früher als geplant stand die junge Frau alleine da, Knall auf Fall war alles anders als erwartet. Doch der Support von Freunden und Familie war gross und Sabrina Gurtner nahm den Weg Richtung Süden in Angriff. Allerdings hielt sie sich an die Strasse und liess den Wanderweg sein. «Ich war mental noch nicht bereit dazu, tagelang in die Wildnis zu gehen», gesteht sie. Nach ein paar hundert Kilometern dann das nächste Hindernis: Wegen einer familiären Angelegenheit flog Sabrina Gurtner für 2 Wochen zurück in die Schweiz. Sie stellte alles infrage, nichts lief wie geplant und wie erwartet. Trotzdem gab sie sich noch einmal einen Ruck und begann den zweiten Teil ihrer Reise.
Es hat sich gelohnt
Nun war sie ganz und gar auf sich gestellt auf dem Wanderweg unterwegs, irgendwo in den weiten Wäldern Schwedens, zwischen Postkartenlandschaften und malerischen Seen. Die traumhafte Kulisse ist gleichzeitig atemberaubend und herausfordernd in Einem. «Man ist wirklich alleine tagelang im Wald unterwegs, ohne eine Menschenseele zu treffen», beschreibt Sabrina Gurtner. Eine Einsamkeit, wie sie hier nirgends erlebt werden kann. Sabrina Gurtner kämpfte mit sich, mit Heimweh, mit der Natur – Wasser einteilen, wilde Tiere, Waldbrände sind Herausforderungen, die es zu meistern galt. Sie führt einen Blog von ihrem Mobiltelefon aus, teilt ihre Gedanken und Erlebnisse. Trifft Menschen unterwegs, begegnet sich selbst neu. Und geniesst ihr Abenteuer immer mehr.
Nach 5 Monaten und 1000 Kilometern ist sie froh, etwas gewagt zu haben. Zahlreiche Eindrücke und Erfahrungen im Gepäck steht sie Ende September wieder in der Schweiz und versucht, im Alltag anzukommen. «Ich habe viel über mich gelernt», meint sie selbstbewusst, «es kommt darauf an, auf das Bauchgefühl zu hören.» Dass eine nächste Etappe folgen wird, sei im Grunde klar. Im besten Fall auf dem E1 weiter bis nach Sizilien. Oder noch einmal in den hohen Norden, mit Schlittenhunden auf der Fjällraven Polar Tour – doch die müsste sie per Voting gewinnen, was noch niemandem aus der Schweiz gelungen sei. Aber unabhängig davon, wann und wie es weitergeht, für Sabrina Gurtner ist klar: «Ich will dranbleiben, solange es für mich stimmt und nicht, um jemandem etwas zu beweisen.»