Begegnungen auf dem Weg zum Werden

Begegnungen auf dem Weg zum Werden

Seit sie sich als Schülerin der 8. Klasse mit den Menschenrechten befasste, beschäftigt sich Lydia Jordi mit Menschen und ihren Geschichten. Dies ist ein Portrait über eine Frau, die hinschaut und hingeht und denjenigen Menschen zuhört, deren Leben zwischenzeitlich vielleicht gnadenlos und ungerecht war.

Lydia Jordi ist wohlbehütet aufgewachsen. In Sri Lanka geboren, wurde sie in die Unternehmerfamilie Jordi adoptiert und verbrachte ihre Kindheit und Jugend mit vier Brüdern in Belp. In ihrem Leben hat Jordi schon einiges gemacht und laut eigenen Angaben hat sie ihr Herzschlag immer wieder da hingetrieben, wo sie die Auseinandersetzung und Suche nach Gerechtigkeit sowie die Begegnungen mit Menschen und ihren Erlebnissen ganz tief prägen konnten.

Über Menschen und ihre Geschichten

«Ich habe immer die Wahl: Höre ich jemandem zu? Nehme ich mein Gegenüber wahr, nehme ich mir die Zeit und habe ich die Energie oder lasse ich die Person in ihrer Einsamkeit?» Sie sagt weiter: «Es braucht nicht viel, um dem Gegenüber zu vermitteln, dass es würdig ist und gesehen wird. Der Mensch als solcher und der Mensch mit seiner Geschichte.»

 

In ihrem freiwilligen Engagement bei Parparim ist Lydia Jordi mit einem Team in der aufsuchenden Milieuarbeit tätig. Dass heisst sie gehen in die Bordelle und überall dahin, wo Prostitution stattfindet, und besuchen Menschen im Rotlichtmillieu. Dort bieten sie Gespräche an, begleiten, vernetzen, helfen zum Beispiel beim Ausfüllen der Steuererklärung, erstellen Businesspläne oder vermitteln bei Bedarf Praktikastellen. Es sind Freundschaften, die entstehen, und man begegnet sich immer wieder. Solche Begegnungen prägen nicht nur das Weltbild, sondern das ganze Dasein. «Es sind die Menschen, die mich interessieren. Die Menschen und ihre Geschichten. Es ist eine Geschichte und in dieser Geschichte ist ein Mensch und dieser Mensch hat Fähigkeiten. Fähigkeiten, die Geschichte zu verändern und ein nächstes Kapitel aufzuschlagen. Die Geschichte selbst ist noch nicht zu Ende geschrieben», sagt Jordi. 

Teil der Lösung sein

Die Beschäftigung mit den Menschenrechten in der 8. Klasse war damals ihr Schlüsselerlebnis und mit ein Grund, warum sie genau den Weg eingeschlagen hat, den sie heute geht. Für Jordi war es kaum zu fassen, dass sowas wie die Menschenrechte, die eigentlich selbstverständlich sein müssten, überhaupt verschriftlicht worden sind. Und sie habe sich gefragt, warum das so sei und warum die Würde der Menschen mancherorts mit Füssen getreten werde. Seitdem begleite sie der Satz von Mohandas Karamchand Gandhi, genannt Mahatma Gandhi: «Sei DU die Veränderung, die Du dir wünscht für diese Welt.» 

Und so versucht Lydia Jordi auch zu leben. Sie sagt: «Die Auseinandersetzung mit den Menschenrechten hat mich sensibilisiert und ich habe mich gefragt: Was kann ich machen, um ein Teil der Lösung zu sein? Bald habe ich gemerkt, dass zwar ich alleine die Welt nicht verändern kann, aber ich kann wenigstens die Welt meines Gegenübers für ein paar Minuten positiv beeinflussen. Denn jede und jeder ist gleichwertig und ich will meinen Mitmenschen auf Augenhöhe begegnen, hinschauen und Dingen auf den Grund gehen, weil ich neugierig bin. Bei all dem will ich die Würde der Menschen bewahren.» Sie fügt an: «Wir Menschen sind so unglaubliche Wesen mit grossartigen Fähigkeiten. Schauen wir zum Beispiel, wie resilient wir sind und dass wir auch in schweren Schicksalsschlägen den Blick für das Schöne nicht verlieren. Ich finde das enorm.» In ihrem beruflichen Engagement beim Verein ACT212 ist Jordi 60 %
in der Administration und der Beratung tätig. Der Verein ist ein Beratungs- und Schulungszentrum gegen Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung, darin eingebettet ist auch die Nationale Meldestelle gegen Menschenhandel und Ausbeutung. Die Überschneidung zwischen Jordis freiwilligem und ihrem beruflichen Engagement ist ganz klar die Zwangsprostitution. Denn wer sich mit Prostitution beschäftigt, kommt irgendwann auf dieses Thema zu sprechen.

Sexualität ist immer noch schambehaftet

«Wir sind uns wohl alle einig, dass Ausbeutung im sexuellen Bereich einfach nicht geht. Wenn du gefühlt innerlich wie auch äusserlich die Wahl hast, dich zu entscheiden, was du machen willst, dann ist das doch wunderbar. Ich mache meine Leidenschaft auch zum Beruf. Die Sexualität ist aber ein Thema, das so sehr tabuisiert, verschleiert und schambehaftet ist, dass wir oft natürlich gehemmt sind. Das Ziel in der Branche der Prostitution sollte sein, den Zwang zu minimieren. Freiwillig-Selbstbestimmt. Und sobald du diese Wahl nicht mehr hast, ist es Zwang und das geht, gerade in der Sexbranche, einfach nicht.»

Auf die Frage was ihr ein Herzensanliegen ist, antwortet sie: «Dass wir uns als Menschen sehen, uns Zeit nehmen können für uns selbst und auch für das Gegenüber. Es braucht zwar Mut, zuzuhören und hinzuschauen, aber es ist wichtig. Ich wünsche mir mehr Menschlichkeit und die Fähigkeit, Menschen ohne Wertung und mitsamt ihrem Inneren und den ganz eigenen dazugehörigen Geschichten anzunehmen. Vielleicht verstehen wir uns zwar nicht immer, doch wir können einander annehmen. Als Menschen.»

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